Eine Bilanz des Nobordercamps Ende August auf Lesbos
Noch nie haben wir ein Nobordercamp an den Außengrenzen der EU erlebt, in dem politische Proteste und soziale Kämpfe um Bewegungsfreiheit derart verschränkt waren wie auf Lesbos. Hinzu kamen eine beachtliche internationale Berichterstattung rund um das Internierungslager Pagani sowie neue Impulse für die transnationale Vernetzung. Auch wenn die Vollversammlungen streckenweise von starken Differenzen bestimmt waren, fällt unsere Bilanz zu Lesbos überwiegend positiv aus (1).
„Morgen, wenn wir weiter ziehen, werden wir wieder Flüchtlinge sein, doch heute Nacht sind wir bis zur letzten Minute einfach Menschen, Freunde die zusammen feiern. Wer hätte gedacht, dass wir uns auf dieser Insel nicht im Wald verstecken müssten, sondern dass uns eine Nacht in Freiheit unter Freunden geschenkt würde!“ Die Sätze des afghanischen jungen Mannes am letzten Abend im Noborder-Camp sprechen Bände. Zu Recht, hat sich doch in den Tagen zuvor Eindrucksvolles ereignet, insbesondere rund um den Infopoint, welcher gleich zu Beginn des (etwas außerhalb gelegenen) Noborder-Camps in der Inselhauptstadt Mytilini direkt an der Hafenpromenade eröffnet wurde. Hier konnten sich TouristInnen über die Flüchtlingssituation auf Lesbos informieren, zudem brachten (stille) UnterstützerInnen von der Insel Decken und Essen, einige berichteten auch von ihren eigenen Erfahrungen mit Flüchtlingen. Am wichtigsten dürfte jedoch gewesen sein, dass sich innerhalb weniger Tage ein selbstorganisiertes „Welcome Center“ herausgebildet hat, ein Treffpunkt von (papierlosen) Neuankömmlingen und Haftentlassenen, ein Ort zum Rasten, zum Austausch von Informationen und zum gemeinsamen Handeln. (2)
Lesbos präsentierte sich wie erwartet als Brennpunkt des EU-Grenzregimes, Zeitpunkt und Ort des Noborder-Camps waren ein „Volltreffer“: Jede Nacht landeten neue Flüchtlingsboote, das Internierungslager Pagani war seit Wochen überfüllt, griechische Borderguards und Frontex im Dauereinsatz (3). Rund 600 AktivistInnen waren zur Protestwoche angereist, neben der griechischen Fraktion mehrheitlich aus Deutschland, aber auch aus vielen anderen Ländern. Die Dynamik für noborder09 begann noch in der Aufbauphase, als fünf Tage vor Campbeginn 150 in Pagani internierte Jugendliche in einen Hungerstreik für ihre Freilassung traten. Erste Solidaritätsaktionen starteten, und dabei entstanden auch jene Bilder, welche in den kommenden Wochen international für Furore sorgen sollten: Mit einer in den Knast geschmuggelten Kamera dokumentierten die Flüchtlinge selber die unmenschlichen Zustände in ihren Zellen und produzierten damit Filmsequenzen (4), die es mit etwas Verzögerung sogar bis in CNN schafften. Auch in deutschen Medien wurden die Bilder aufgegriffen, doch die Öffentlichkeitsarbeit in Griechenland wie auch international hätte weit effektiver sein können, wäre der Kontakt zu Mainstream-Medien nicht bis zuletzt ein äußerst umstrittenes Feld gewesen (5).
Zum ersten Streitpunkt in den Camptagen geriet, was aus deutschen Debatten allzu bekannt erscheint: 40 Flüchtlinge hatten sich mittels Hungerstreik aus Pagani freigekämpft und warteten obdach- und mittellos am Hafen auf die Überfahrt nach Athen. Die Fährplätze waren für Tage ausgebucht, also wurden sie aufs Camp eingeladen. Doch dort kam sofort die Frage auf, wie ein Camp politisch handlungsfähig bleiben könne, wenn womöglich Hunderte von Flüchtlingen zu versorgen wären. Viele – nicht zuletzt lokale AktivistInnen – befürchteten, sich in Einzelfallhilfe zu verlieren und darin staatlicherseits gar instrumentalisiert zu werden. Inwiefern sich praktische Solidarität und politische Ansprüche verknüpfen lassen, oder mehr noch: inwiefern Widerstand gerade durch die Überlappung von sozialen (Überlebens-)Kämpfen und politischen Initiativen Dynamik entfalten könnte, ließ sich in den Vollversammlungen allenfalls theoretisch erörtern. Das aber war der Grund, weshalb sich die Einrichtung des Infopoints als geradezu salomonischer Kompromiss entpuppte.
Denn dort trafen Noborder-AktivistInnen, welche das Grenzregime politisch bekämpfen wollten, mit denjenigen zusammen, die es durch ihre Reise nach Europa praktisch in Frage stellten. Am Infopunkt gelang die Kommunikation über alle Sprachgrenzen hinweg – vom gegenseitigen Unterstützen bis hin zum gemeinsamen (politischen!) Handeln. Die Volksküche brachte Essen, zudem boten CampaktivistInnen medizinische Erstversorgung, juristischen Rat und praktische Hilfe zur (Weiter-)Reise. Erfahrenere MigrantInnen übersetzten und vermittelten ihre Erlebnisse, die Ausgeschlafenen halfen den erschöpften Neuankömmlingen. Gerade erst Angelandete beteiligten sich an einer Farewell-Parade für diejenigen, die mit der Fähre Richtung Athen losfuhren. Mit einer afghanischen Grossfamilie konnte die Registrierung ohne Internierung erstritten werden, ein Präzendenzfall! Und für den Frontex-Aktionstag wurde am Infopoint ein riesiges, vielsprachiges Freedom of Movement-Transparent gemalt, unter Beteiligung ganz verschiedener Flüchtlinge. Das Verhältnis von Fürsorge und Aktivismus, zwischen Verhandlungen und Strassenaktionen war nicht leicht auszubalancieren, und brachte die Involvierten immer wieder an emotionale und physische Grenzen. Doch genau dieser Prozess erscheint uns als eine der stärksten Seiten des Camps.
Spätestens mit dem Hungerstreik kurz vor Campbeginn zeichnete sich ab, dass das Internierungslager zum Kristallisationspunkt für noborder09 werden würde. Pagani war mit zeitweise 1000 eingesperrten Männern, Frauen und Kindern total überfüllt, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser völlig unzureichend und die hygienischen Bedingungen katastrophal. Fast jeden Tag fanden größere und kleinere Aktionen statt, mit „Freedom! Azadi!“-Rufen als gemeinsamer Parole von drinnen und draußen. Am Tor des Knastes wurde mehrfach heftig gerüttelt, der Innenhof belagert und zum Abschluss das Dach von Pagani besetzt. Ob und wie ein von außen forcierter Massenausbruch die Schließung des Knastes hätte erreichen können, darum wurde lange und oft erbittert gerungen. Wäre es nicht die einzig adäquate Antwort gewesen (und zudem technisch einfach möglich)? Am Ende war jedoch das von innen klar artikulierte Interesse, nicht wie „Kriminelle“ ausbrechen, sondern schlicht entlassen werden zu wollen, ausschlaggebender (einschließlich der Befürchtung, dass sich der Fährhafen als leicht kontrollierbares Nadelöhr entpuppen würde). In diesem Sinne schälte sich – jedenfalls für die Zeit des Camps – als Strategie die Losung heraus, von innen wie außen für stetigen Druck zu sorgen, um als erstes die Internierungszeiten zu verkürzen und sodann den Knast in ein tatsächlich offenes Zentrum umzuwandeln.
Diese Debatte war untrennbar verbunden mit Fragen möglicher Aktionsformen – wobei sich in den Vollversammlungen und Arbeitsgruppen die unterschiedlichen Ebenen ständig vermischten. Erstens gab es bereits im Vorfeld des Camps heftige innergriechische Konflikte: So sollen anarchistische Zusammenhänge vor allem deshalb nicht am Camp teilgenommen haben, weil aus ihrer Sicht eine Zusammenarbeit mit dem an der Vorbereitung beteiligten „Netzwerk für politische und soziale Rechte“ („Diktio“) nicht möglich wäre. Zweitens erwarteten autonome und anarchistische Gruppen aus anderen Ländern mehr direkte Aktionen und fühlten sich mit entsprechenden Vorschlägen immer wieder ausgebremst. In der Tat wurden bisweilen Aktionsideen blockiert, etwa weil kein Vertrauen in eine verantwortliche Umsetzung bestand oder weil eigene (zum Teil fragwürdig erscheinende) Verhandlungstaktiken gefährdet erschienen. Hinzu kamen drittens massive Kommunikationsprobleme, die auch mit unterschiedlichen Protestkulturen sowie (häufig intransparenten) Entscheidungsfindungsprozessen zusammenhingen. Viertens hat die aus Athen eingeschiffte Riot-Police die Aktionsplanungen alles andere als vereinfacht. Denn mehrfach demonstrierten die Cops mit völlig unvermittelten Knüppeleinsätzen, dass von ihnen ziviler Umgang mit zivilem Ungehorsam kaum zu erwarten wäre. Fünftens spielten auch unterschiedliche Einschätzungen eine zentrale Rolle – insbesondere hinsichtlich des richtigen Fingerspitzengefühls für die aktuelle Situation: Zu nennen wäre beispielhaft der (durch andere CampteilnehmerInnen verhinderte) Versuch eines kleineren Trupps, aus einer gemeinsamen Demo im innerstädtischen Hafenbereich zu einer militanten Unternehmung aufzubrechen – entgegen klarer Absprachen in der durchaus heterogen zusammengesetzten Vorbereitungs-AG der Demo vielfach artikulierter Bitten seitens lokaler AktivistInnen. Bedauerlich bleibt insofern (und das ist an die Adresse aller formuliert), dass es im Laufe der Campwoche nicht gelungen ist, in eigenständigen und gut vorbereiteten Aktionen die Infrastuktur von Frontex, Küstenwache & Co. direkt anzugehen!
Für reichlich Furore sorgte am Frontex-Aktionstag die Aktion, mit 50 kleinen Schlauchbooten ins Hafenbecken zu springen und auf den Stützpunkt der Küstenwache zuzupaddeln. Auch deshalb, weil die Einsatzboote der griechischen Coast-Guards ‚freundlicherweise‘ demonstrierten, wie sie durch schnelle Rotationen künstliche Wellen erzeugen, um so auf hoher See Flüchtlingsboote zurückzudrängen. Gleichzeitig zog die Demo gegen Frontex los, angeführt unter anderem von AktivistInnen aus Mali und Mauretanien, die in Westafrika ebenfalls mit Operationen der EU-Grenzagentur konfrontiert sind. Die transnationale Vernetzung mit ihnen sowie AktivistInnen aus Osteuropa und der Türkei konnte in Workshops vertieft werden, gegen Frontex und die illegalen Abschiebungen (Refoulement) an den EU-Außengrenzen sind weitere gemeinsame Initiativen geplant. Mehr Nachhaltigkeit denn je hat noborder09 auch auf lokaler Ebene hinterlassen. Die lokale Unterstützungsgruppe ging merklich gestärkt aus der Woche hervor, die Skandalisierung der Zustände in Pagani hielt an, nicht zuletzt weil die neuen InsassInnen weiter rebellier(t)en. Offensichtlich ermutigt von der Noborder-Phase kam es in den Wochen danach zu Protesten, die mittlerweile zur Wiedereröffnung eines offenen Lagers führten. Neuankommende Familien sollen nun direkt dort registriert werden, ohne Internierung, was eine kleine aber handfeste Verschiebung in der bisherigen Abschreckungspraxis bedeuten würde. Zudem haben die „Voices from Pagani“ die Dublin-Rückschiebungen weiter erschwert, und vor dem Hintergrund eines erfolgreichen Eilantrages beim Bundesverfassungsgericht schimpfte Schäuble unlängst nicht zufällig, dass mit Griechenland das ganze Dublin-System in Gefahr gerate.
Mit geschätzten 200 Sans Papiers kam noborder09 über das Infopunkt-Zirkuszelt in Berührung, das System der Registrierung und Internierung konnte in den Camptagen vielfach unterlaufen werden. Kontakte blieben über Athen hinaus bestehen und die schnellsten meldeten sich bereits aus den Zielländern zurück! Der Infopoint hat für einige Augenblicke ahnen lassen, wie ein selbstorganisiertes „Welcome-Center“ aussehen könnte – daran hat auch eine junge Frau aus Somalia keinen Zweifel gelassen: "Am dankbarsten bin ich darüber gelernt zu haben, dass es mehr als nur eine Reise gibt. Als ich Somalia verließ, ging ich los, um einen sicheren und besseren Ort zum Leben zu finden und weil ich meine Familie unterstützen wollte. Ich kann nun klarer sehen, wie Europa im Augenblick ist und dass es nicht der sichere Ort ist, den ich zu erreichen hoffte. Wir werden in grauenhafte Gefängnisse geworfen und Europa sendet seine Truppen, um uns auf dem Meer zu bekämpfen. Ich habe nie so viel gelernt in solch kurzer Zeit. Es war ein harter Lernprozess, aber ich lernte noch mehr. Ich habe meine zweite Reise hier begonnen. Denn wir begannen all die anderen zu sehen, die in denselben kleinen Booten sitzen und ums Überleben und Weiterkommen kämpfen. In den letzten Tagen mit Euch gemeinsam hier in diesem Zelt in Mytilini habe ich erahnen können, wie es sein könnte, wenn wir alle gemeinsam auf die Reise gingen. Vielleicht an einen anderen Ort, der in der Zukunft existieren wird."
transact! im Oktober 2009
(1) Die Langfassung des Textes findet sich auf: http://transact.noblogs.org/. Vgl. au゚erdem: http://lesvos09.antira.info/ sowie http://birdsofimmigrants.jogspace.net/biographi
(2) Zum Infopunkt wird in den nächsten Monaten eine eigenständige Broschüre erscheinen.
(3) Vgl ak 539: In Pagani werden die Fingerabdrücke der Flüchtlinge genommen, anschließend werden sie solange inhaftiert (zwischen 2 Wochen und 2 Monaten), bis sie ein „weißes Papier“ ausgehändigt bekommen, welches besagt, dass sie Griechenland innerhalb von 30 Tagen verlassen müssen.
(4) Dieses und andere Videos können hier angeguckt werden: http://lesvos09.antira.info/nobordertv/
(5) Vor dem Camp gab es eine Entscheidung der lokalen Gruppe, als Nobordercamp keinerlei Mainstream-Medien-Arbeit zu machen.