Klimakämpfe zwischen Vielfachkrise und globaler Gerechtigkeit. Das Netzwerk transact im Streitgespräch


Kurze Einleitung

Zu Recht standen die Jahre 2015 und 2016 ganz im Zeichen der Migration. Demgegenüber war 2019 das Jahr des Klimawandels – „endlich“, möchten wir hinzufügen. In diesem Sinne haben wir uns bei unserem letzten Treffen unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie die aktuellen Klimaproteste einzuordnen sind, auch mit Blick auf andere gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Dabei dürften nur die wenigsten unserer Überlegungen, Fragen und Kontroversen neu gewesen sein. Dennoch haben wir uns entschieden, unsere Debatte zu verschriftlichen, allerdings nicht als Protokoll, sondern als (anschließend per E-Mail geführtes) Streitgespräch. Denn gerade, weil mittlerweile viele Gruppen und Netzwerke um die Frage ringen, ob und wie die Klimakatstrophe noch aufzuhalten ist, kann es interessant sein, etwas ausführlicher mitzubekommen, wie andere die diesbezüglichen Themen und Crossover-Notwendigkeiten angehen – quasi als eine Art Hintergrundreflektion, ergänzend zum praktischen Tun und Werkeln. Aus bewegungsgeschichtlichen Gründen sei noch angemerkt, dass unser Text als Fortsetzung eines Streitgesprächs gelesen werden kann, das wir bereits 2008 anlässlich des Hamburger Klima-/Antira-Camps unter dem Titel „Luxus für alle! In Zeiten des Klimawandels?“ veröffentlicht haben. Dieses und weitere Texte finden sich auf unserer Webseite: https://transact.noblogs.org/, unser aktuelles Streitgespräch ist auch auf der Webseite des Projekts „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ dokumentiert: www.welche-gesellschaft.org

Ein Wort noch zu uns: „Transact!“ wurde 2007 von Aktivist*innen aus Berlin, Bremen (NoLager), Hanau (kein mensch ist illegal) und Wien (aktiv im Europäischen BürgerInnen-Forum) gegründet. Wir organisieren keine eigenen Aktionen, vielmehr beteiligen wir uns an einer Vielzahl von Netzwerken und Projekten: kein mensch ist illegal/Hanau ist unter anderem beim Watch The Med Alarmphone, bei Welcome to Europe und bei Solidarity Cities aktiv, Schwerpunkt von NoLager Bremen ist die Mitarbeit bei Afrique-Europe-Interact, die Wiener Gruppe des Europäischen BürgerInnen-Forums setzt sich unter anderem für die Rechte von migrantischen Landarbeiter*innen ein, die Berliner*innen sind an verschiedenen Punkten aktiv, unter anderem bei Ende Gelände (wobei hinzugefügt sei, dass letztere sich aus Zeitgründen nicht an dem Streitgespräch beteiligt haben).

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[Vorbemerkung: Die Fragen stammen von uns selbst, sie haben sich aus unserer Diskussion ergeben]

Katastrophenszenarien und Klimanotstand sind bestimmende Themen. Wie schätzt ihr die Lage ein? Und welche Begriffe verwendet ihr oder welche warum nicht?

EBF/Wien:
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte Rudi Dutschke vor mehr als 50 Jahren beim Vietnam-Kongress in Berlin. Aus seiner Sicht gab es damals eine unmittelbare revolutionäre Dringlichkeit, auf die die Versammelten reagieren müssten. Wir vertreten die Ansicht, dass sich heute die Dringlichkeit, die Gesellschaft zu verändern, potenziert und auf ein völlig neues Niveau gehoben hat: Denn es bleibt nicht viel Zeit, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht und die bei einem weiteren „Business as usual“ in dramatische sozial-ökologische Verwerfungen münden könnten. Viele Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen sprechen deshalb seit geraumer Zeit von einer „Vielfachkrise“ des Planeten. Der Klimawandel wirkt zudem heute als Brandbeschleuniger für alle anderen Krisen, seien es soziale, ökonomische oder ökologische Krisen. Wenn es in absehbarer Zeit nicht gelingt, die Erwärmung unseres Planeten aufzuhalten, drohen verschärfte Krisendynamiken. Die herrschende Politik begegnet dieser Entwicklung mit einer ungeheuren Verdrängungsleistung. Wir denken, dass aufgrund des weitgehend irreversiblen Charakters der Klimaveränderungen (bei allem Gerede von Geo-Engineering) Grund genug gibt, gehörig Alarm zu schlagen. Diese Dringlichkeit darf uns aber nicht dazu verleiten, in den sozialen Bewegungen demokratische Prozesse auszuhebeln und einen autoritären Pfad einzuschlagen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, oder, um es salopp zu sagen: So etwas wie ein ‚Klima-Leninismus‘ wäre eine grobe Fehlentwicklung. Wir stehen also vor der gewaltigen Herausforderung, uns auf tatsächlich inklusive Prozesse einzulassen, die den Nachteil haben, oftmals mühsam und langwierig sein zu können. Ein gehöriges Spannungsfeld…

kmii/Hanau:
Wir stehen dem Begriff der Katastrophen aus mehreren Gründen ziemlich skeptisch gegenüber. Zum einen, weil er Angst auslöst, die eher lähmend wirken kann, und das erscheint uns wenig hilfreich oder gar kontraproduktiv, wenn wir emanzipative Kämpfe fördern wollen. Zum zweiten kann er u.E. die egozentrischen und eurozentristischen Herangehensweisen verstärken. Denn so, wie er in der Regel als Zukunftsszenario benutzt wird, ignoriert er die andauernden Katastrophen und Notstände, die sich alltäglich vor allem im globalen Süden abspielen und leider nichts Neues sind. Drittens: Den Medien folgend würden wahrscheinlich die meisten sagen, dass es in den letzten 10 Jahren viel mehr Tote und Verletzte durch Naturkatastrophen gegeben hat als in den Jahrzehnten zuvor. Das ist allerdings mitnichten der Fall, im Gegenteil. Es starben in den letzten Jahrzehnten durchschnittlich ca. 50.000 Menschen pro Jahr durch Naturkatastrophen (die nicht alle mit dem Klimawandel zusammenhängen). Ins Verhältnis gesetzt zur gleichzeitigen Zunahme der Gesamtweltbevölkerung ist – insbesondere durch Anpassungsmaßnahmen und Katastrophenprävention – die Todesrate massiv gesunken. Doch auch aus der linken Klimabewegung wird anderes suggeriert. Eine taktische Begründung im Sinne davon, dass Katastrophenszenarien der Mobilisierung dienen, halten wir nicht für ehrlich und auch nicht für nachhaltig. Natürlich muss davor gewarnt werden, dass die Kipppunkte schneller als erwartet kommen können und dass dringlich alles getan werden muss, um diese Entwicklung umzudrehen. Statt Angstmache sollte eine Klimagerechtigkeitsbewegung auf transnationale Kämpfe und Widerstandspotentiale fokussieren. Sie sind der Hebel gesellschaftlicher Veränderungen, mit Impulsen in alle Richtungen, in denen ein Umdenken und Handeln so dringend notwendig ist.

AEI/Bremen:
Wir können uns beiden Statements anschließen – jedenfalls teilweise: Zum einen teilen wir das Dringlichkeitsgefühl aus Wien, zum anderen glauben wir auch, dass apokalyptisch anmutende Krisenszenarien eher kontraproduktiv sind – das zeigen die Erfahrungen von 2015. Damals haben bereits 1 Million Geflüchtete gereicht, um die Zustimmungsraten zur AFD von unter 5 Prozent auf 15 Prozent nach oben schnellen zu lassen. Die Konsequenz sollte allerdings nicht sein, die Beschäftigung mit dem Klimawandel zugunsten einer Fokussierung auf Widerstandspotentiale in den Hintergrund treten zu lassen – nur, weil die Menschen ob der Größe des Problems verschreckt sein könnten. Als eine Art Kompromiss bevorzugen wir vielmehr, die Katastrophe konkret und somit auch besser greifbar bzw. weniger überwältigend zu machen. In unserem Fall bedeutet dies, dass wir ausgehend von unserer politischen Arbeit bei Afrique-Europe-Interact vor allem versuchen, über den Sahel zu reden – manchmal auch über andere Regionen in Subsahara-Afrika. Dadurch sind die Analysen weniger abstrakt, vor allem, weil sie konkrete Orte, Zeitpunkte und Menschen in den Blick nehmen, und auch, weil sie auf den konkreten Beziehungen beruhen, die wir zu bäuerlichen und anderen Gruppen aufgebaut haben. Gleichzeitig lässt sich präziser bestimmen, was konkret gemacht werden sollte, was ebenfalls hilft, diffuse Überforderungsgefühle zu vermeiden. Eine Anmerkung noch zu der von Hanau ins Spiel gebrachten Zahl von 50.000, die in unseren Ohren etwas zwangsoptimistisch daherkommt. Allein in West- und Ostafrika sind – je nach Zählart – zwischen 10 und 20 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Unzählige dürften an Folge- bzw. einfachen Begleiterkrankungen wie Durchfall sterben. Hinzu kommen lebenslange körperliche und geistige Beeinträchtigungen, die Hunger bzw. Mangelernährung in den ersten Lebensjahren nach sich zieht. In beiden Regionen hat das mit vielfältigen Gründen zu tun, aber ein wichtiger Faktor in einem komplexen Ursachengeflecht ist der Klimawandel. Dies zeigt: Wir sollten uns nicht bei Laune halten, indem wir uns gegenseitig vorrechnen, dass heute relativ weniger Menschen hungern als noch vor 20 Jahren. Vielmehr kommt es darauf an, der Katastrophe ins Auge zu gucken, ohne den Menschen hierzulande den Eindruck zu vermitteln, dass sie ab sofort entbehrungsreich mithungern müssten. Oder anders: Wir empfinden es bis heute als eine ernsthafte Schwäche linker Bewegungen, dass sie die Hunger- bzw. Ernährungsfrage – als einer der wichtigsten Fragen im Kontext des Klimawandels – weitgehend an NGOs, Kirchen, ökobäuerliche Interessenverbände oder Bürger*inneninitiativen delegiert haben, anstatt Fragen zu globaler Landwirtschaft als politisches Thema systematisch zu bearbeiten.

Wie schätzt ihr die Klima(gerechtigkeits)bewegung aktuell ein, wie die letzten Massenmobilisierungen der Klimastreiks? Welche Potentiale, aber auch welche Begrenztheiten seht ihr?

kmii/Hanau:
Zweifellos hat die Klima(gerechtigkeits)bewegung das Potential einer globalen emanzipativen Perspektive. Die große Mehrheit der 2019 in den Klimastreiktagen Mobilisierten engagieren sich aber mehr für den Artenschutz der Tiere und die weite Zukunft ihrer eigenen Kinder als für nahe und gleiche Rechte aller Menschen auf diesem Planeten – z.B. für das Recht auf Bewegungsfreiheit und damit gegen das Massensterben an den Grenzen der EU. Wir sagen nicht, dass es nicht wert wäre, die Verbindungslinien immer wieder herzustellen zu versuchen, aber die realen Begrenztheiten sollten ebenfalls auf den Tisch. Diese wiederum haben nicht zuletzt mit Klassenfragen zu tun. Die hiesige Klimabewegung ist von weißen Mittelschichten dominiert. „Die Regierung redet vom Ende der Welt, wir vom Ende des Monats!“ Mit diesem Slogan skandierten die Gelbwesten gegen die Regierung Macron, die angeblich zur Finanzierung der französischen Energiewende die höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe plante. Auf Kosten vieler Geringverdienender. Wenn Politiker*innen in Deutschland verlautbaren lassen, dass es „Klimaschutz nicht zum Nulltarif gebe“, geht die Drohung in die gleiche Richtung. Von Solaranlagen über Elektro-Autos bis zu veganen Lebensmitteln: klimagerechteres Haushalten muss mensch sich leisten können. Und hier sehen wir eine weitere Schwachstelle der Klimabewegung. Soziale Fragen – die Notwendigkeit gleichzeitiger Umverteilung von Vermögen und Einkommen – werden kaum thematisiert, die sozial(!)-ökologische Transformation bleibt zu oft ein nicht konkretisierter Anspruch.

AEI/Bremen:
Eure Einschätzung zu den Klimastreiks können wir nicht ganz nachvollziehen. Denn wenn man sich die erste größere Studie zu Fridays For Future vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung anguckt, dann kommt ein deutlich differenzierteres Bild raus (https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2019/08/ipb-working-paper_FFF_final_online.pdf). Mehr noch: Wir finden es beeindruckend, was vor allem die Sprecher*innen von Fridays for Future teilweise an politisch komplexen und inhaltlich versierten Positionen formulieren. Das ist inhaltlich breiter als der Sprech vieler altgedienter, auf ihr eigenes Thema fixierter Bewegungsaktivist*innen, was auch zeigt, dass sich die Eichhörnchenarbeit lohnt, immer wieder themen- und spektrenübergreifende Crossover-Projekte stark zu machen wie etwa derzeit die Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“. Gleichzeitig wäre es weltfremd, von Schüler*innen eine umfassende Analyse zu erwarten, die im Laufe des letzten Jahres mehrheitlich das erste Mal überhaupt auf einer Demo waren. Insofern scheint uns vielmehr der Umstand wichtig zu sein, dass die Klimafrage in den letzten 12 Monaten in der öffentlichen Debatte endlich die Bedeutung erhalten hat, die ihr unseres Erachtens tatsächlich gebührt. Umgekehrt sollte mensch nicht aus dem Blick verlieren, dass es hierzulande in 2019 einen neuen Rekord bei SUVs gab, um nur ein besonders abstruses Beispiel für die bei Klimafragen fast schon normale Doppelmoral (nicht nur) der deutschen Bevölkerung zu nennen. Denn dies zeigt auch, dass die „gefühlte“ Verbindung zum globalen Süden weiterhin gekappt ist bzw. noch nie da war. Der eigene Skiurlaub mit individueller Anreise ist offenkundig wichtiger als der versiegende Brunnen im Sahel, entsprechend tut mensch einen Teufel, ausgerechnet den kapitalistischen Ast abzusägen, auf dem dieses ressourcenfressende Produktions- und Konsummodell basiert.

EBF/Wien:
Wir denken, dass ihr Hanauer*innen an dieser Stelle die Klimagerechtigkeitsbewegungen gehörig unterschätzt. Seien es der Massenmobilisierungsmotor Fridays for Future oder eher kleinere, aber äußerst wirksame und starke Bewegungen wie Ende Gelände, Sand im Getriebe oder Stay Grounded: In all diesen Zusammenhängen wird die soziale Frage stets thematisiert. Neben Scientists for Future gibt es mittlerweile Workers for Future, Trade Unionists for Future und und und… und mehr noch: Wir denken, dass die Klimafrage aktuell für alle emanzipatorischen Bewegungen so etwas wie ein Türöffner ist. Denn mit der Klimafrage können Fragen der globalen Gerechtigkeit und der weltumspannenden Solidarität anschaulich transportiert werden. Heute weiss jedes Kind, das auf die Fridays-Demos geht, dass Europäer*innen im Schnitt mindestens 11 Tonnen CO2 pro Jahr konsumieren, obwohl jedem Menschen nur 1, höchstens aber 2 Tonnen pro Jahr zustehen. Sie wissen auch, dass die CO2-Emissionen in unseren Gesellschaften klassenmäßig aufgefächert sind. Die Kids hassen die SUV-Fahrer und das ist Klassenkampf und Klimaschutz in einem.

kmii/Hanau:
Wir haben nicht über einige Tausend Klima-Aktivist*innen geredet, die in der Tat versuchen, globale Gerechtigkeitsfragen zu thematisieren. Wir haben über die 1,4 Millionen geredet, die z.B. am 20.9.2019 in Deutschland mit demonstriert haben und die die Gesamtstimmung bezüglich Klimawandel doch prägen. Und da würden wir weiter behaupten, dass 90 % oder mehr nicht für grundsätzliche und globale Änderungen auf die Straße gehen, die ja nötig wären, wenn die Klimakrise gestoppt werden soll. Wäre es anders, hätten wir hier schon längst andere Zustände. Die Masse redet vielleicht über Konsumveränderung, aber nicht über System Change.

AEI/Bremen:
Sicherlich, der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit dem Klimawandel ist hochgradig widersprüchlich, wir sagten es schon. Dennoch begreifen wir die in linken Kreisen populäre Zurückweisung sogenannter individueller Konsumkritik als linke Variante von Klimawandelleugnung  – häufig einzig deshalb, um den eigenen imperialen Mini-Mittelschichtenkonsum zu rechtfertigen, inklusive Flugreise in den Urlaub. Geleugnet wird, dass in den letzten 30 bis 40 Jahren die grundlegende Kritik an Konsumpraxis meist auch mit veränderten Ideen und Forderungen bezüglich gesellschaftlicher Produktion einhergegangen ist: von bewusster Ernährung zur Agrarwende, von anderem Fortbewegungsverhalten zur Verkehrswende oder vom Stromsparen zur Energiewende. Sicherlich, diese Übergänge sind kein Automatismus, und nicht wenige belassen es tatsächlich beim symbolischen Abdrehen des Lichtschalters, um gleichzeitig auf hohem Niveau weiter zu konsumieren, eine Kritik, die sich nicht zuletzt konsumstarke Haushalte aus dem grünen Metropolenbürgertum gefallen lassen müssen. Aber Fakt ist auch, dass das, was heute unter Agar-, Energie- oder Verkehrswende diskutiert wird, gar nicht existieren würde, hätte es anfangs nicht jeweils kleine Initiativen, Betriebe oder Einzelpersonen gegeben, die den individuellen Konsum zum Ausgang einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen genommen haben. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich. Denn spätestens seit dem stalinistischen und maoistischen Terror des 20. Jahrhunderts mit Millionen Toten wissen wir, dass Bewusstseinsveränderung nicht qua Diktatur verordnet werden kann – nicht zufällig haben die Wiener*innen eingangs jedem Klima-Leninismus eine Absage erteilt. Insofern ist es in unseren Augen wichtig und notwendig, dass die linke Klimabewegung Konsumkritik als potentielles Einstiegstörchen stark macht und nicht denunziert. Und dieses Starkmachen sollte auch zwei weitere Feststellungen umfassen: Einerseits, dass ein ökologisches vernünftiges Leben ohne individuellen Autobesitz, aufwändige Hotelurlaube oder Geräte- bzw. Maschinenpark in der Küche ungleich billiger ist als ein sogenannter normaler Lebensentwurf – was wir auch mit Blick auf die weiter oben formulierte These der Hanauer*innen sagen, dass mensch sich einen klimaverträglichen Konsum erst einmal leisten können müsse. Andererseits, dass die von links gerne ins Rennen geschickte These ein buchstäblicher Pappkamerad ist, wonach ein einzelner nicht gemachter Flug das Klima nicht retten würde. Denn das hat auch nie jemand behauptet. Das Argument lautet vielmehr, dass Kämpfe ihren Ausgang in aller Regel davon nehmen, dass immer mehr Menschen ihr Interesse neu bestimmen – beispielsweise das Interesse, sich nicht mehr qua Flugzeug fortzubewegen, was im Zuge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen früher oder später zu Alternativen führt, inklusive damit zusammenhängender Folgeauseinandersetzungen, etwa der Kampf für ein arbeitsvertraglich verankertes Recht, alle 3 bis 5 Jahre eine Fernreise mit dem Schiff oder der Eisenbahn antreten und daher 4 Wochen Extra-Urlaub für Hin- und Rückfahrt nehmen zu können.

kmii/Hanau:
Es ist auf keinen Fall ein Fehler, bestimmte – wir würden sagen: „satte“ – Bevölkerungsschichten zur ökologischen Konsumveränderung zu bewegen. Doch Konsumverzicht benötigt unserer Erfahrung nach eine gewisse Entscheidungsfreiheit und vielleicht eine behütete Kindheit. Menschen aus Kriegsgenerationen oder eben auch Geflüchtete mit krassen Entbehrungserfahrungen haben eine andere Geschichte und Konsum bedeutet hier auch Sicherheit oder Ausgleich. Anders formuliert: wer viele Jahre niemals auch nur an Urlaub denken konnte, wird sich den Traum erfüllen wollen, sobald es geht. Und nochmal grundsätzlicher: Uwe Schneidewind vom Wuppertaler Institut hat in seinem lesenswerten Buch „Die große Transformation“ nicht zufällig die Frage einer „kulturellen Revolution“ an den Beginn gesetzt. Dazu gehören dann die vielen kleinen Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, aber eben auch das Beharren auf globaler Gerechtigkeit, die allen (!) – der in 2050 sich wohl auf 10 Milliarden einpendelnden – Menschen auf diesem Planeten und ihren Folgegenerationen ein gutes Leben ermöglicht.

AEI/Bremen:
…ja, völlig einverstanden…

Bislang haben die Massenproteste kaum zu wirklichen politischen Veränderungen geführt. Wo seht ihr Ansätze für Durchsetzungsstrategien und wie schätzt ihr die Debatten um einen Green New Deal ein?

EBF/Wien:
Selbst wenn es gelänge, einen Green New Deal durchzusetzen, wären viele Umweltprobleme im allerbesten Fall erst im Ansatz gelöst: Mit einer grün-keynesianischen Wirtschaftspolitik, die darauf angewiesen ist, dass der Wachstumsmotor weiter brummt, werden die drastischen Senkungen der CO2 Emissionen, die notwendig sind, nicht erreicht werden können. Wir denken aber dennoch, dass ein Green New Deal ein Schritt in die richtige Richtung ist, wenn er denn die Handschrift einer Politikerin wie der US-Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) trägt. Ihn ihrem Vorschlag werden nämlich Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit glaubhaft mit der Forderung nach effektivem Klimaschutz verbunden. Darin unterscheidet sich Ocasio-Cortez radikal vom Demokratischen Establishment und auch vom Green New Deal-Entwurf der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Hier wäre wieder die entstehende und weiter wachsende Klimagerechtigkeitsbewegung gefragt: An ihr liegt es, an von der Leyens Vorschlag diejenigen Elemente einzufordern, die bei Ocasio-Cortez zumindest ansatzweise vorhanden sind. Ein Beispiel, wie es gehen könnte: Als der Vorschlag von Ocasio-Cortez im Februar 2019 in den USA präsentiert wurde, äußerten sich über 600 Gruppen aus dem Spektrum der Klimabewegungen in einem offenen Brief kritisch-solidarisch. Ihr Anspruch ist es nun, den Vorschlag mitzuentwickeln, zu verteidigen, zu korrigieren und voranzutreiben. Davon sind wir in Europa noch weit entfernt, v.a. weil von der Leyens Vorschlag eben viel unbrauchbarer ist als derjenige der fortschrittlichen Demokrat*innen rund um Ocasio-Cortez.

kmii/Hanau:
Durchsetzungsstrategien sind in allen Bewegungen eine zentrale Herausforderung und immer bewegen sie sich zwischen revolutionärer Realpolitik und kapitalistischer Modernisierung. Dieser Ambivalenz kann auch die Klimabewegung nicht entkommen. Chancen und Risiken liegen nahe beieinander. Alternative Landwirtschaft und dezentralisierte CO2-freie Technologien können Demokratisierung fördern, nicht zuletzt im globalen Süden. Gleichzeitig wollen bestimmte Kapitalfraktionen die Klimakrise zum Vehikel einer neuen Investitionsoffensive machen, die mehr Wachstum und neue Formen der Ausbeutung und sozialen Kontrolle schaffen soll. Geopolitische Veränderungen werden im Sinne einer neuen Welt des Kapitals diskutiert: Einige ölexportierende Länder würden wohl ihre Machtstellung verlieren. Die Patente für erneuerbare Energien liegen vor allem in China, Japan, EU, USA. Und es könnte zu neuen sozialen Verwerfungen in den bevölkerungsreichen Ölstaaten kommen, in Nordafrika, Nigeria, Irak, in denen ein Teil der Öleinnahmen dazu verwendet wird, die immer wieder revoltierende Bevölkerung ruhig zu halten. Es wäre dringend mitzudiskutieren, dass und wie eine weitergehende Verarmung weiterer Teile der Welt-Bevölkerung verhindert werden muss.

AEI/Bremen:
Ja klar, es gibt keinen widerspruchsfreien Weg aus der Krise, allerdings ist für uns die Frage des Green New Deal eng mit der Dringlichkeitsfrage verknüpft, aber auch mit den kollektiven Selbstaufklärungsprozessen im Rahmen der Konsumfrage. Denn wir finden den linken Maximalismus falsch, wonach nur die Beseitigung des Kapitalismus die endgültige Katastrophe aufhalten könne. Inhaltlich mag das richtig sein, aber da der Klimawandel schon wirksam ist, verbietet es sich, solche Parolen in den Vordergrund zu schieben, die de facto dazu führen, dass gar nichts passiert. Zugespitzter: Der Klimawandel ist ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit radikaler Realpolitik von links, so wie ja aus antirassistischer Perspektive auch nicht auf die Verhinderung einer einzelnen Abschiebung verzichtet wird, nur weil noch tausende andere Menschen ebenfalls abgeschoben werden. Insofern sollte sich ein Green New Deal nicht zuletzt an zwei Kriterien orientieren: Einerseits sollten Lösungen grundsätzlich baukastenmäßig aufgebaut sein – also so, dass sie kurzfristig greifende Konzepte mit langfristigen Strategien verbinden, selbst dann, wenn das heißt, dass man sich auch mit kleinen Brötchen als Zwischenlösung zufrieden gibt, etwa E-Mobilität als Übergangstechnologie auf dem Weg zu einer echten Verkehrswende mit stark reduziertem individuellen Autoverkehr. Denn es ist doch völlig klar: Die Mehrheit ist hierzulande weder intellektuell noch emotional bereit, innerhalb der nächsten 10 Jahre weitgehend auf ihr Auto zu verzichten – ganz davon abgesehen, dass die echte Verkehrswende nicht so schnell gelingen wird. Vor diesem Hintergrund können zwei oder drei Generationen kleiner, mindestens 10 Jahre gefahrener E-Autos kein Fehler sein, wie zum Beispiel in Norwegen, quasi als Ersatzdroge, um schrittweise vom Auto runterzukommen – bei gleichzeitiger Vermeidung sozialer und ökologischer Kollateralschäden beim Abbau von Lithium oder Kobalt unter anderem in afrikanischen Ländern. Andererseits sollte ein starker Fokus auf Alternativen gelegt werden. An diesem Punkt könnte die Klimabewegung noch deutlich praktischer werden – also das, was wir ablehnen, zu verbinden mit dem, wo wir hinwollen. Vorbild könnte hier unter anderem die Bewegung für eine andere Landwirtschaft sein, wo die Kritik am Agrobusiness bereits seit Jahrzehnten nahezu perfekt mit Alternativen verknüpft wird, auch wenn hinzugefügt werden muss, dass speziell das Bio-Milieu sozial viel zu homogen und daher für zahlreiche Menschen noch nicht anschlussfähig ist.

Nochmal zurück zu den sogenannten „Jetztkämpfen“. Könntet ihr nochmal konkretisieren, wie ihr Euch die Verstärkung der Nord-Süd-Verbindungen vorstellt?

EBF/Wien:
Zwar gelingt es den Regierungen im globalen Norden bisweilen noch, die gesellschaftliche Hegemonie stabil zu halten – manchmal sogar unter mehr oder weniger bürgerlich-liberalen Vorzeichen, wie aktuell mit der neuen Regierung aus Grünen und konservativer ÖVP in Österreich. Wer das Privileg hat, im Besitz der richtigen Papiere zu sein, lebt in der Regel in Frieden und muss zumindest nicht den Hungertod fürchten. Ein Großteil der Menschen in Zentraleuropa hat sogar das Privileg, in Wohlstand zu leben. Verglichen mit den apokalyptischen Lebensbedingungen, denen der Großteil der Bevölkerung in manchen Gegenden der Demokratischen Republik Kongo, in Bangladesh oder in Kolumbien ausgesetzt ist, hat man bisweilen den Eindruck, in einer Art V.I.P.-Zone der Welt zu leben. Die imperiale Lebensweise, ein Begriff der nicht zu Unrecht gerade hoch im Kurs steht, schafft die strukturellen Rahmenbedingungen, damit Elend und Umweltzerstörung außerhalb unseres Blickfelds bleiben. Und dennoch: Die verbliebenen Wohlstandsinseln schrumpfen, und innerhalb der Gesellschaften des reichen Nordens brodelt es zuweilen gewaltig. Deshalb müssen wir wieder große emanzipatorische Entwürfe denken lernen. Vor uns liegt das Jahrhundertprojekt der sozial-ökologischen Transformation. Niemand kann zum heutigen Zeitpunkt sagen, ob es gelingen wird, den Planeten vor Klimachaos und Verwüstung zu bewahren. Globale Solidarität ist dabei deshalb so zentral, da diejenigen am meisten von den Auswirkungen der Vielfachkrise leiden, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Das trifft ganz besonders auf die Folgen des Klimawandels zu – Argumente, die wir Kanzler Kurz und seiner Regierung von nun an um die Ohren hauen sollten. Extinction Rebellion hat in ihrem Buch „Wann, wenn nicht jetzt“ dazu wichtige Impulse geliefert. Und das, obwohl XR gleichsam vor problematischen inneren Zerreißproben steht und für die Aussagen einiger ihrer Protagonisten zu Recht heftig kritisiert wird.

kmii/Hanau:
Wie einleitend bereits angesprochen: eine einseitige Orientierung auf zukünftige Katastrophenszenarien oder gar „Extinction“ ignoriert oder vernachlässigt die Bedeutung der globalen Jetztkämpfe: für gleiche Rechte im Sinne einer sozial gerechten Existenz für Alle der heute nahezu acht Milliarden Menschen auf dieser Welt. Wenn dieser Kontext nicht immer wieder hergestellt und Verbindungslinien gezogen werden, wenn soziale und Klimakämpfe im Süden weitgehend ausgeblendet bleiben, dann wird die Klimabewegung ihr emanzipatives Potential nicht entfalten können.

AEI/Bremen:
Zunächst möchten wir nochmal darauf bestehen, dies auch als Infragestellung des Begriffs der „Jetztkämpfe“, dass die Klimakatastrophe bereits Gegenwart ist, kein Zukunftsszenario. Insofern kommt es lediglich darauf an, ob man sich die Katastrophe anguckt oder nicht. Zum anderen teilen wir die Wiener Einschätzungen, glauben aber, dass es vor allem darauf ankommt, praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. In diesem Sinne sind wir über unseren nahezu täglichen Kontakt mit Mitgliedern der Bauerngewerkschaft COPON in Mali sehr froh, die ebenfalls Mitglied von Afrique-Europe-Interact ist. Denn dies ermöglicht uns nicht nur praktische, das Verständnis enorm bereichernde Blicke ins globale Treibhaus. Vielmehr vermittelt es auch jene existentiellen Mikroschocks, die wahrscheinlich notwendig sind, um sich selbst in Punkto Klimawandel dauerhaft auf die notwendige Spur zu setzen.

Ihr seid alle in der transnationalen antirassistischen Bewegung aktiv. Was ist Euch besonders wichtig in der Verbindung von „Klima und Migration“?

EBF/Wien:
An dieser Stelle sei noch ein weiteres Mal auf den Begriff der imperialen Lebensweise verwiesen. Er besagt im Wesentlichen, dass die meisten Menschen im Globalen Norden, also in den reichen, westlichen Industrienationen, sowie eine wachsende Zahl an Menschen in den sogenannten Schwellenländern, auf Kosten des größten Teils der Menschheit und der Umwelt leben. Um die imperiale Lebensweise zu stabilisieren, werden systematisch Menschenrechte verletzt, Bauern und Bäuerinnen sowie indigene Gruppen von ihrem Land vertrieben, die natürlichen Ressourcen werden ausgeplündert und der Klimawandel weiter angeheizt. So weit so bekannt. Doch für sehr viele Menschen bedeutet das Anhalten und die Vertiefung der imperialen Lebensweise eine fortschreitende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Da die globale Ausweitung der imperialen Lebensweise den Bedarf an natürlichen Ressourcen immer weiter erhöht, nimmt die Konkurrenz um Land, etwa in lateinamerikanischen oder afrikanischen Ländern, immer weiter zu. All diese Dinge sind vom Thema Migration nicht loszulösen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Auswirkungen des Klimawandels sowie die sich weiter verschärfenden öko-imperialen Spannungen nicht automatisch dazu führen werden, dass der Großteil der Betroffenen in die verbleibenden Wohlstandsinseln migriert. Vielmehr wird mit dem Klimawandel aller Voraussicht nach zunächst die Binnenmigration enorm zunehmen. Dies vor dem Hintergrund, da die ärmsten Segmente der Bevölkerung in den jeweiligen Gesellschaften am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Ihnen fehlen meist die Mittel und die schieren Möglichkeiten, langen Migrationsrouten zu folgen.

kmii/Hanau:
Beide Themen stehen für globale Gerechtigkeitsfragen, die vielfältig miteinander verwoben sind und jeweils ein radikales Umdenken erfordern. Wer ernsthaft Klimagerechtigkeit fordert, muss Bewegungsfreiheit als globales soziales Recht auf die Tagesordnung setzen. Wer für das Recht zu bleiben kämpft, muss die Klimakrise als zusätzlichen, an Bedeutung zunehmenden Fluchthintergrund thematisieren. Wir sehen gerade in Österreich, die Wiener*innen sagten es schon, wie es auch kommen kann: wie die grüne Partei dem Slogan von Kurz folgt – „das Klima und Grenzen schützen“ – und zugunsten ihrer Klimaforderungen die Menschenrechte für Geflüchtete verrät. Dagegen müssen wir rebellieren. Beide Bewegungen müssen Grenzen einreißen, sich transnational organisieren und die Klimafrage als globale soziale Frage stark machen. Ein Klimaforscher aus Oxford hatte es gut auf den Punkt gebracht: „Der Klimawandel ist weniger ein Notfall als vielmehr eine schwelende Ungerechtigkeit. Unsere Vorfahren haben die Sklaverei nicht beendet, indem sie den Notstand erklärten und künstliche Grenzen für ´erträgliche` Sklavenzahlen erträumten. Sie benannten die Sklaverei als das, was sie war: eine spektakulär profitable Industrie, die Grundlage für viel Wohlstand in der damaligen Zeit, die auf einer grundlegenden Ungerechtigkeit beruhte. Es ist an der Zeit, dasselbe beim Klimawandel zu tun.“

EBF/Wien
Völlig richtig. Wir können die Sorge der Freund*innen aus Hanau insofern bestens verstehen, als dass nun ein reaktionärer Zugriff auf die Klimabewegung droht. Wenn wir nicht dagegenhalten, kann es leicht passieren, dass die Bewegung gespalten wird, inklusive zunehmender Kriminalisierung der radikaleren Klimagruppen, die sich auch für globale Gerechtigkeit einsetzen. Dabei handelt es sich nicht um ein rein österreichisches Problem: Die bürgerlichen Leitmedien in Deutschland preisen die Wiener Koalition bereits als europäisches Modell an. Genau deshalb glauben wir ja, dass es sich lohnt, den Begriff der imperialen Lebensweise stark zu machen. Die Kritik der imperialen Lebensweise der Mittel- und Oberschichten hierzulande trifft sich im Übrigen ganz gut mit den Argumenten, die weiter oben von den Freund*innen aus Bremen gebracht wurden. Nur so können wir verhindern, dass die Klimafrage gegen die Klassen- und Migrationsfrage ausgespielt wird.

AEI/Bremen
Spätestens seit dem Stern-Report zu den wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels im Jahr 2006 hat die Figur des Klimageflüchteten den Eisbären als Symbol des Klimawandels abgelöst. Und doch muss man sich vor Augen führen, dass es bislang viel weniger Klimageflüchtete gibt, als in vielen Studien immer wieder suggeriert wird. Denn die, die tatsächlich wegen des Klimawandels gehen müssen – die Wiener*innen sagten es bereits – sind in aller Regel viel zu arm, um eine weite Flucht antreten zu können. Entsprechend migrieren diese Menschen eher nahräumlich – in aller Regel handelt es sich um bäuerliche Haushalte, Fischer*innen oder Viehhirten. Wenn überhaupt können sich einzelne Familienmitglieder auf den Weg in die Hauptstadt oder ins Ausland machen, während die übrigen Haushaltsmitglieder in gewisser Weise verhinderte Klimageflüchtete sind, die sich allenfalls 30 oder 50 Kilometer weiterbewegen. Vor diesem Hintergrund geht die auch im Kontext des Klimawandels formulierte Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit häufig ins Leere, ganz davon abgesehen, dass etwa Bauern und Bäuerinnen aus dem Sahel gar kein Interesse haben, plötzlich mit ihrer ganzen Großfamilie in Europa zu leben. Umso wichtiger ist, die vom Klimawandel am meisten Betroffenen dahingehend zu stärken, sich besser an die veränderten Umweltbedingungen anzupassen, ob durch Bewässerungsprojekte, Aufforstungsprogramme oder Katastrophenschutz – von verbesserter Infrastruktur durch den Staat ganz zu schweigen. Hinzu kommt eine zweite Überlegung: Flucht und Migration liegen in aller Regel vielfältige Motive zugrunde, die zudem meist verschränkt sind. Auch deshalb ist es in aller Regel gar nicht so einfach, Klimageflüchtete von Freihandels-, Terror- oder Privatisierungsgeflüchteten zu unterscheiden. Und doch: Selbst wenn der hiesige Diskurs manchmal etwas ungenau ist, finden wir es wichtig, dass Klimaflucht als Problem anerkannt wird, auch in juristischer Hinsicht, was Papiere betrifft, zumal vieles dafür spricht, dass das Problem in den nächsten Jahren ständig größer werden dürfte.

Welche Perspektiven sehr ihr? Welche konkreten Räume und welche Kampagnen und Aktionen in 2020 erscheinen Euch wichtig? Wie weiter in Richtung Transformationsstrategien?

EBF/Wien:
Um globale Solidarität praktisch werden zu lassen, reicht es nicht aus, auf nur einer gesellschaftlichen Ebene präsent zu sein – beispielsweise ausschließlich in den zahlenmäßig doch relativ überschaubaren sozialen Bewegungen, die noch dazu oftmals den Nachteil haben, den Druck, den sie aufbauen, nicht über unbegrenzte Dauer aufrecht erhalten zu können. Deshalb gehen wir davon aus, dass verschiedene emanzipatorische Strategien produktiv zusammenwirken sollten; oder anders formuliert: Wir sollten zu einer Art inner-linken Arbeitsteilung finden: Soziale Basisbewegungen, Zivilgesellschaft und NGOs, Kirchengemeinden, Journalist*innen, Kulturschaffende, Universitäten bis hin zu progressiven Parteien müssen – bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Methoden und Ansätze – Synergien entwickeln. Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Unterstützung der Demokratischen Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez in den USA durch soziale Bewegungen. Der Ansatz der inner-linken Arbeitsteilung berührt außerdem den Ansatz Doppelstrategie, den wir hier stark machen wollen. Damit ist gemeint, dass wir unser eigenes Handeln im Alltag bzw. in unserem unmittelbaren Umfeld sofort ändern müssen – beispielsweise auf Autos verzichten, weniger oder kein Fleisch essen oder, falls wir Zugang zu materiellen Ressourcen haben, diese radikal umverteilen. Gleichzeitig müssen wir diese Änderungen mit Ansätzen kombinieren, die kraftvoll, überzeugend und großmaßstäbig in die Gesellschaft hineinwirken und die Institutionen und Tiefenstrukturen unserer Gesellschaft verändern. Die beiden Elemente der Doppelstrategie stehen dabei in ständiger Wechselwirkung und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. An dieser Stelle wollen wir an die große Degrowth-Konferenz an Pfingsten in Wien erinnern. Kommt zahlreich, denn dort wird nicht nur das Spannungsfeld zwischen strukturellen und individuellen, sowie zwischen globalen und regionalen Handlungsoptionen facettenreich und spannend diskutiert werden. Es soll auch darum gehen, spektrenübergreifend zu diskutieren, wie eine sozial gerechte Welt innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten aussehen könnte.

AEI/Bremen:
Wir finden sämtliche Bündnisprojekte wichtig und gut, entsprechend werden wir uns daran auch auf die eine oder andere Weise beteiligen – unter anderem an der großen Ende Gelände-Aktion im Herbst. Und doch möchten bzw. müssen wir uns auf unsere Kooperation mit unseren bäuerlichen Mitstreiter*innen in Mali und Guinea konzentrieren, vor allem, was die weitere Stärkung der Bauerngewerkschaft in Mali betrifft. Zum einen, weil die Prozesse vergleichsweise kompliziert und zeitaufwändig sind und insofern nur funktionieren, wenn alle Beteiligten wirklich kontinuierlich am Ball bleiben. Zum anderen, weil die Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft auch praktischer Klimaschutz von unten ist – getreu des Slogans: „Small farmers cool the planet“.

kmii/Hanau:
„…Die Zustände schreien nach Veränderung! Es gibt Alternativen und es gibt auf diesem Planeten genug für Alle. Darin wollen wir uns gegenseitig ermutigen. Wir wollen mehr Austausch und Verständigung, auch über Widersprüche in und zwischen den sozialen Bewegungen. Und nicht zuletzt über die Frage, was ein gutes Leben für alle bedeutet…“ Mit diesen Sätzen wird im Manifest der Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ der Anspruch auf einen „übergreifenden Suchprozess für eine gemeinsame Perspektive“ formuliert. Gegenseitiger Erfahrungsaustausch sowie inhaltliche wie praktische Verknüpfungen zwischen verschiedenen Alltagskämpfen halten wir in der Tat für die zentrale Herausforderung, wenn wir in Richtung sozial-ökologischer Transformation denken. Wir leben in polarisierten Zeiten und sind mit komplexen Machtverhältnissen konfrontiert. Einfache Antworten wird es nicht geben. Wir stehen überall vor großen Herausforderungen, aber wir müssen uns mit unserem Pol für eine klimagerechte, offene und soziale Gesellschaft mitnichten verstecken. Klimastreiks, Feminist Futures und Mieter*innenproteste, Seenotrettung und der Auf- und Ausbau von Infrastrukturen für Bewegungsfreiheit: aktuelle Schlaglichter aus hiesigen Bewegungen, die Mut machen und Hoffnung geben, dass wir dem Rechtsruck und den autoritären und populistischen Formierungen keinesfalls tatenlos gegenüberstehen. Soziale Bewegungen haben eine gewachsene Massenbasis, umkämpfte Räume in vielen Feldern. Ganz ohne Che Guevara Nostalgie: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.“

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