Marktplatz Bremen, 13 Uhr
Wat mutt, dat mutt:
Her mit dem schönen Leben – für alle, weltweit!
Die Krise ist in aller Munde – zu Recht, wie wir glauben: Weltweit dürften – so die "Internationale Arbeitsorganisation" (ILO) – im Jahr 2009 bis zu 70 Millionen Menschen gefeuert werden; die Zahl derjenigen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen und dennoch von weniger als 2 Dollar pro Tag (über-)leben müssen, wird wohl um 178 Millionen auf 1,4 Milliarden Menschen anwachsen; besonders krass ist die Situation für Migrant_innen bzw. Wanderarbeiter_innen: In Südspanien werden zum Beispiel osteuropäische und afrikanische Landarbeiter_innen in rasantem Tempo durch so genannte "Einheimische" verdrängt, welche ihre Jobs in der ungleich besser bezahlten Bauindustrie verloren haben; begleitet wird dies von regelrechten Hetzjagden der Polizei auf Menschen ohne Papiere bzw. solche, die dafür gehalten werden. Auch in hiesigen Gefilden ist noch lange kein Ende der Krise in Sicht: Über Opel & Co. schwebt der Pleitegeier, Leiharbeiter_innen werden in Scharen entlassen, Hundertausende müssen als Kurzarbeiter_innen empfindliche Lohneinbußen hinnehmen. Und das ist erst der Anfang. Denn die gigantischen Milliardensummen, die derzeit ins Bankengewerbe fließen, werden die öffentlichen Haushalte auf Jahrzehnte zusätzlich belasten – und das mit katastrophalen Konsequenzen: Noch mehr Schwimmbäder, Jugendzentren oder Theater müssen dicht machen, Mietzuschüsse werden zurückgefahren, Frauen- und Mädchenhäuser gehen den Bach runter, Altersarmut wird zum uneinschätzbaren Lebensrisiko, die Preise für den öffentlichen Nahverkehr klettern weiter, Krankenhäuser werden kaputtgespart, Kitas bleiben unterbesetzt etc.etc.
Krise hin oder her – eines sollte nicht aus dem Blick geraten: Prekarisierung – also die umfassende Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse – ist keineswegs neu. Im Gegenteil: Die aktuelle Krise stellt lediglich eine Zuspitzung jener Entwicklungen dar, die unseren Alltag schon seit langem bestimmen. Seit Ende der 1970er Jahre werden unter dem Diktat "neoliberaler Globalisierung" immer mehr Menschen in prekäre Umstände abgedrängt – nicht nur im Süden des Globus, sondern auch in den reichen Industrieländern: In Deutschland arbeitet bereits ein Drittel aller Beschäftigten unter entgarantierten bzw. verunsicherten Bedingungen, das heißt als Leih- und Zeitarbeiter_innen, als Mini- oder Midi-Jobber_innen, als befristet Beschäftigte, als mies oder gar nicht bezahlte Praktikant_innen, als (Schein-)Selbstständige oder als papierlose MigrantInnen (was in aller Regel mit arbeitsrechtlicher Vogelfreiheit einhergeht). Prekarisierung und forcierter Wettbewerb gehören eng zusammen; Folge ist, dass Prekarisierte zunehmend in die Konkurrenz zu so genannten Stammbelegschaften gebracht werden. Allein die Anwesenheit von Leiharbeiter_innen in einem Betrieb wirkt (lohn)disziplinierend. Hierzu passt, dass sich mittlerweile rund 30 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten mit Niedrig- bzw. Armutslöhnen bescheiden müssen, das heißt mit Löhnen, welche zu einem menschenwürdigen, ja schönen Leben schlicht nicht reichen. Besonders stark betroffen sind Frauen – ob migrantisch oder nicht; sie machen 70 Prozent aller Niedriglohn-Empfänger_innen aus, vor allem in Bereichen wie der Gastronomie, der Hausarbeit oder dem Einzelhandel.
Auch Erwerbslose stecken in der Prekarisierungsmühle, auch sie sind permanent Druck, Stress und Verunsicherung ausgesetzt, ob durch Fallmanager_innen, Zwangsumzüge oder 1-Euro-Jobs. Hinzu kommen Hartz-IV-Regelsätze, welche die Fahrt im Stadtbus, den Einkauf von Bioprodukten oder schlichten Zahnersatz zu beinahe unerschwinglichen Luxus-Veranstaltungen machen. Es sollte allerdings Klarheit darüber bestehen, dass derlei Entrechtungen keineswegs zufällig sind. Nein, sie dienen vielmehr der systematischen Einschüchterung all jener, die (noch) einer Beschäftigung nachgehen – ob unter prekarisierten Bedingungen oder nicht! Ganz ähnlich stellt sich die Situation im Bildungsbereich dar, nicht nur für diejenigen, welche durch das dreigliedrige Schulsystem bereits frühzeitig aussortiert und in die Jugendarbeitslosigkeit entlassen werden. Denn neoliberal inspirierte "Reformen" wie Turboabitur, Bachelorabschlüsse, Studiengebühren oder der Ausbau von (privaten) Eliteuniversitäten sorgen dafür, dass auch zahlreiche Schüler_innen und Student_innen von ständigen Existenz- und Zukunftsängsten umtrieben werden. Es ist also kaum verwunderlich, dass Studierende laut einer Studie der "Techniker Krankenkasse" fast doppelt so viel Psychopharmaka einnehmen wie Beruftstätige der gleichen Altersgruppe.
Keine Frage, Prekarisierung hat viele Gesichter. Es wäre daher irreführend und zynisch, sämtliche Prekarisierungserfahrungen miteinander gleichzusetzen. Denn es macht durchaus einen beträchtlichen Unterschied, ob ich papierlose Hausarbeiterin mit zwei Kindern, junge Architektin im ersten Berufsjahr, Transgender-Kassierer_in an der Supermarktkasse, abschiebebedrohter Flüchtling im Lager, Langzeitarbeitslose in der 1-Euro-Maßnahme, freier Journalist in der Provinz, gehörloser Konditor ohne Chance auf Festanstellung oder Friseurin in Sachsen bin. Oder zugespitzter: Ein "Prekariat" als klar umrissene Bevölkerungsgruppe existiert nicht! Was es allerdings gibt, sind Erfahrungen, welche sich – bei aller Unterschiedlichkeit – immer mehr angleichen. Hierzu gehören zum einen die Abwärtsspirale materieller Verarmung (insbesondere durch Hartz IV und Niedriglohnarbeit), zum anderen Gefühle von Ohnmacht, Verunsicherung und Zukunftsangst. Hintergrund ist, dass die individuelle Existenz im Kapitalismus unter einem prinzipiellen Vorbehalt steht: Ob durch Leistungsterror, knallharte Auslese oder Hyperausbeutung, Prekarisierung kann jede_n treffen, das kriegen in der Krise selbst die Mittelschichten ungeschminkt zu spüren.
Krise und Prekarisierung sind Kinder des Kapitalismus – so viel ist unstrittig. Völlig offen ist jedoch, wie es weitergehen wird: Zum einen warten die Medien nahezu täglich mit neuen Hiobsbotschaften auf, vieles spricht dafür, dass sich die aktuelle Krise zu einer handfesten Systemkrise auswachsen könnte. Es sollte mit anderen Worten nicht ausgeschlossen werden, dass die milliardenschweren Krisenprogramme der westlichen Regierungen zu kurz greifen – bei aller Anpassungs- bzw. Erneuerungsfähigkeit des Kapitalismus. Das wirft im Gegenzug die Frage auf, wie es um die ganz normale Bevölkerung bestellt ist – also um uns alle. Hier scheint die bisherige (Krisen-)Bilanz eher durchwachsen: Viele ahnen zwar, dass es so nicht weitergehen kann. Das Unbehagen oder die Angst verlängern sich jedoch kaum – jedenfalls bislang – in selbstbestimmte Organisierungs- und Widerstandsprozesse. In diesem Sinne möchte wir mit der Euromayday-Parade ein deutliches Zeichen setzen: So bedeutsam jede noch so kleine Verbesserung ist, unsere Wünsche zielen auf mehr: Eine solidarische Gesellschaft ist nur im fundamentalen Bruch möglich – nicht nur mit der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie, auch patriarchale, rassistische und alle anderen Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse gehören abgeschafft! Das ist der Grund, weshalb wir uns für "Globale Soziale Rechte" stark machen: Gemeint ist das Recht auf Bildung, Mobilität oder gesundheitliche Versorgung genauso wie das Recht auf Selbstverwaltung oder globale Bewegungsfreiheit. Doch Achtung: Globale Soziale Rechte sind nichts, was einfach so gewährt würde – vom Staat oder wem auch immer. Globale Soziale Rechte müssen vielmehr "von unten" erkämpft werden – Schritt für Schritt. Vor diesem Hintergrund beziehen wir uns offensiv auf jede Form emanzipatorischer Aneignung: hierzu zählen auf der einen Seite "stille" Aneignungspraktiken wie etwa gezielte Drosselung des Arbeitstempos oder irreguläre Grenzüberschreitung von MigrantInnen in die EU, auf der anderen Seite politisch artikulierte Kämpfe, beispielsweise betriebliche Auseinandersetzungen, Schüler_innenstreiks oder Hausbesetzungen.
"MaydayMayday" ist das Signal, welches in Seenot geratene Schiffe aussenden. In diesem Sinne: Raus aus den Federn, es kommt auf uns alle an! Der Euromadayday ist eine offene Parade – alle sind eingeladen, ihre Prekarisierungserfahrungen oder Aneignungskämpfe einzubringen, wie und mit welchen Mitteln, das ist euch überlassen!
Euromayday-Paraden von Mailand bis Bremen
Die erste Euromayday-Parade ist 2001 in Mailand durch die Straßen gezogen. Zentrales Anliegen war und ist es, den verschiedenartigen Prekarsierungserfahrungen Ausdruck zu verleihen. Nicht Einheitlichkeit ist das Ziel, sondern das Sichtbarmachen der Vielheit der Lebens-, Arbeits- und Kampfformen. 2007 haben sich in über 25 europäischen Städten rund 100.000 Menschen an Euromayday-Paraden beteiligt. Hierzulande haben seit 2004 Euromaydays in Hamburg, Berlin, Tübingen und Hanau stattgefunden. Der Bremer Euromayday begreift sich nicht als Konkurrenz zur 1. Mai-Demo der Gewerkschaften, sondern als Zuspitzung & Erweiterung. Denn nur wenn Kämpfe ernsthaft zusammengeführt werden, eröffnet sich überhaupt die Chance auf eine solidarische Gesellschaft, das heißt auf ein ganz anderes Ganzes.
Fußnote: Dieser Aufruf verwendet die durch die FrauenLesbenTransgender-Bewegung eingeführte Schreibweise des "Unterstrich_i" (zum Beispiel: Migrant_innen). Damit sollen auch diejenigen Menschen in der Sprache berücksichtigt werden, die sich nicht in die binäre, d.h. ausschließliche Logik von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ einordnen können oder wollen. Durch das Schriftbild werden im Unterschied zum "Binnen-I" (zum Beispiel: ArbeiterInnen) Räume jenseits der Zweigeschlechtlichkeit sichtbar. Ziel ist es, den Leser_innen die Möglichkeit zu geben, über normalisierte und als selbstverständlich erlebte Bilder und Assoziationen hinaus zu denken. So sehr der Inhalt dieser Argumentation von allen am Mayday-Bündnis Beteiligten getragen wird, nicht alle sind gleichermaßen vom Unterstrich_i überzeugt. Vielmehr plädiert ein Teil von uns, den Kampf um’s Binnen-I fortzusetzen – einerseits weil es sich um eine bereits etablierte und bis heute offene Auseinandersetzung handelt, andererseits weil das Binnen-I die ganzen 1990er Jahre über durchaus als eine Art Container für sämtliche Formen von (Nicht-)Geschlechtlichkeit fungiert hat.
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Vielen Dank an Christian Ditsch von der "fotoangentur version" und Roland Geisheimer von "attenzione fotographers", daß sie uns ihre Fotos zur Verfügung gestellt haben!