Zweite Reise in die Ägäis


Willkommens-Inseln im Meer der Ausgrenzung

Die Rauchschwaden aus den brennenden Zellen haben sich verzogen. Pagani, der „Kinderknast auf Lesbos“, musste nach anhaltenden Kämpfen von drinnen und draußen im letzten Oktober faktisch geschlossen werden. Das war der sichtbarste Erfolg der Dynamik des Nobordercamps im letzten August, mit dem es gelungen ist, politische Proteste und soziale Kämpfe um Bewegungsfreiheit unmittelbar zu verbinden (1). Im September werden sich (daran anknüpfend) wieder AktivistInnen in die Ägäis aufmachen: „Welcome-to-Europe“ auf Lesbos und Samos als Teil verschiedener Noborder-Aktivitäten in einem Griechenland, das angesichts der dortigen Krisenprozesse unter sozialer Hochspannung steht.

Die neue PASOK-Regierung scheint momentan eifrig bemüht, das alte hässliche Gesicht der griechischen Internierungslager neu zu schminken. Auf einem ehemaligen Militärgelände nahe der Inselhauptstadt Mitilini soll ein „Screening-Center“ errichtet werden. Die Folgen der sogenannten Modernisierung des griechischen Asylsystems sind auf der Nachbarinsel Samos bereits zu spüren. Im dortigen Lager, mit einem kleinen Kinderspielplatz hinterm Stacheldrahtzaun, machen als Übersetzer getarnte Offiziere der EU-Grenzschutzagentur Frontex erste Experimente, um angeblich falsche Identitätsangaben der Flüchtlinge aufzudecken, „offensichtlich Nicht-Schutzbedürftige“ auszusortieren und deren schnelle Abschiebung zu organisieren. Der erste große Hungerstreik von MigrantInnen gegen dieses neue Abschiebesystem ließ nicht lange auf sich warten: im April 2010 streiken über 100 Flüchtlinge gegen ihre bevorstehende Abschiebung. (2)

Modernisierung unter Anleitung von Frontex: Frontex war in Griechenland mit der Operation „Poseidon“ bislang vor allem an den Abfangpatrouillen auf See beteiligt. Die Ägäis, mit vielen kleineren und größeren griechischen Inseln in Sichtweite zur türkischen Küste, lässt sich jedoch nicht umfassend kontrollieren. Auch für dieses Jahr ist zu erwarten, dass die Zahl der Neuankömmlinge ungebrochen hoch bleibt. Wo die an der Insolvenz entlanghangelnde  Regierung überfordert scheint, bietet Frontex mit EU-Mitteln den Import eines modernen Abschieberegimes quasi als Nothilfe an. Unter ihrer Anleitung soll ein effektives Selektions- und Abschiebungssystem auf den Inseln etabliert werden, auch auf Lesbos. Das unmenschlich überfüllte Lager Pagani konnte im letzten Sommer erfolgreich international skandalisiert werden – nicht zuletzt dank geschickter Öffentlichkeitsarbeit rund um das Nobordercamp. Das (leicht geschminkte) modernisierte Unrecht des „Screenings“ und Selektierens in ähnlicher Weise zu skandalisieren, ist eine neue Herausforderung – und ein notwendiger Schritt, denn in Pagani wurde nicht für bessere Toiletten gekämpft.

Den Kampf um Bewegungsfreiheit aufgreifen: „We don`t want food, we want freedom!“ schrieben die Minderjährigen im Hungerstreik in Pagani auf ihr Banner. „We want to go forward! Wir wollen ankommen in Europa!“ sagten manche der inhaftierten MigrantInnen und machten deutlich: sie kämpften nicht für bessere Haft- oder Lagerbedingungen sondern für Bewegungsfreiheit. Dies und die über das Nobordercamp hinaus entwickelten sozialen Netzwerke zwischen TransitmigrantInnen und AktivistInnen sind ein weiterer gewichtiger Beweggrund für die erneute Mobilisierung nach Lesbos und Samos.

Dublin II-Kampagne: Es waren auch diese fortgesetzten Kontakte mit afghanischen jungen Männern oder eritreischen jungen Frauen, die nun auch in den Zielländern zu Initiativen gegen die sogenannte Dublin-II-Verordnung inspiriert haben. Denn gemäß des Dublin II-EU-Vertragswerks bleibt das Land der ersten Einreise für das Asylverfahren zuständig. Wer sich aus Griechenland zu Verwandten und Bekannten in West- oder Nordeuropa durchgeschlagen hat, muss deshalb die Rückschiebung befürchten. Vor dem Hintergrund des desolaten griechischen Asylsystems ist diese Praxis in Deutschland zur Zeit juristisch höchst umstritten. Und genau in diesem umkämpften Feld wurde Ende März eine neue Kampagne gegen Dublin II gestartet (4), die die Forderung der Flüchtlinge nach Bewegungsfreiheit im Inneren der EU aufgreift. Zeitgleich wurde als gemeinsames europäisches Projekt w2eu.info eingerichtet, ein Welcome-to-Europe-Webguide, der Flüchtlingen und MigrantInnen – quasi als virtuelle Willkommensplattform – mehrsprachige Informationen und vor allem verlässliche Kontakt- und Beratungsmöglichkeiten quer durch Europa anbietet.

Papierschiff auf Lesbos: Zurück nach Lesbos: in Mitilini wird zur Zeit über „Chartino Karavi“, das „Papierschiff“, als Idee einer neuen dauerhaften Anlaufstelle und Ort des Willkommens für Flüchtlinge und MigrantInnen diskutiert. Das Projekt bezieht sich ausdrücklich auf die Erfahrungen des Infopoints während des Nobordercamps und soll Beratung, Information und Austausch ermöglichen. Die Mobilisierung im September soll diesen Ansatz temporär verstärken und gleichzeitig die Verbindungen in die Zielländer verdichten. Willkommens-Orte und – plattformen, die für eine Vision stehen: denn lokale und transnationale Netzwerke könnten gemeinsam eine Reise fortsetzen, die im letzten Sommer begonnen wurde und die uns zu einem anderen Europa führen könnte, das vielleicht in Zukunft existieren wird. (5)

(1) Zum Auswertungstext von transact! und zur Infopunkt-Broschüre vgl.  http://transact.noblogs.org/
(2) Infos zum letztjährigen Nobordercamps und zu aktuellen Entwicklungen: http://lesvos09.antira.info/
(3) Vgl. auch http://frontex.antira.info/ und http://frontexplode.eu/
(4) Kampagnenzeitung zum Downloaden und Bestellen sowie weitere Infos: http://dublin2.info/
(5) Chartino karavi: http://hartinokaravi.antira.info/ Zu den weiteren Stationen der gemeinsamen Reise: vgl. www.noborder.org

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