Ein provokativer Aperitif für weitere Debatten
Ausgangspunkt des fiktiven – bewusst zuspitzenden und offen bleibenden –
Streitgesprächs ist ein realer Streit unter den HerausgeberInnen
dieser Zeitung gewesen. Im Kern kreiste unsere Debatte um Fragen,
welche bereits in der „Plattform für Globale Soziale Rechte“
aufgemacht wurden (vgl. www.globale-soziale-rechte.de). Auch dort
heißt es, dass es in der politischen Auseinandersetzung nicht „um
das freihändige Erstellen eines Katalogs der Wünschbarkeiten,
sondern nur um einen offenen Austausch über die inneren Widersprüche
der AkteurInnen“ gehen könne. Und das gelte um so mehr, je
stärker ökologischen Fragen einbezogen würden. Denn „zur
Disposition gestellt wird dann ein Lebensstil, der aus ökologischer
Verantwortung nicht globalisierbar ist, obwohl global nach ihm
gestrebt wird.“ Wir sind froh, dass wir bei Marge Piercy zwei
Figuren gefunden haben, welche unseren jeweiligen Positionierungen
ihre wahlverwandtschaftliche Stimme geliehen haben.
Riva:
Gleiche Rechte für alle! Das heißt auch, dass der chinesischen
Wanderarbeiterin zugestanden werden muss, den auf chinesischen
Werkbänken produzierten VW-Golf zu fahren!
Luciente:
Wenn du „Luxus für alle!“ in die Parole übersetzt „Jeder
Chinesin ihr Auto!“, ist das blanker Wahnsinn. Du propagierst damit
das Ende des Planeten – von Ressourcenkriegen etc. ganz zu
schweigen! Ganz ehrlich: Mobilität für alle geht nicht, zumindest
wenn darunter massenhafter Individualverkehr oder gar Vielfliegerei
für alle verstanden wird.
Riva:
Aha, alle sollen nur noch Laufen oder Fahrradfahren…
Luciente:
Verdammt, das ist eines dieser Scheinargumente, welche die Debatte
unnötig erschweren! Wenn wir es mit dem Slogan „Gleiche Rechte für
alle“ ernst meinen, dann führt an Fahrrädern, Bussen und Zügen
als den zentralen Fortbewegungsmitteln der Zukunft kein Weg vorbei.
Flugzeuge und Autos wären nur noch die Ausnahme – was allerdings
bei potentiell 6,7 Milliarden NutzerInnen immer noch eine enorme
Belastung fürs Klima bedeuten würde.
Riva:
Ok, aber sonderlich attraktiv bzw. anschlussfähig hört sich das
nicht an. Du scheinst kein Problem damit zu haben, den ArbeiterInnen
von Daimler oder Opel einfach mal ihre Jobs aufzukündigen. Das
riecht nach bornierter Mittelschichten-Attitüde! Vor allem frage ich
mich, wie du das einem Menschen in China oder Brasilien beibiegen
willst. Warum soll in den so genannten Schwellenländern das
verunmöglicht werden, was in Europa seit bald 50 Jahren
Selbstverständlichkeit ist?
Luciente:
Ich möchte überhaupt niemandem etwas beibiegen. Ich sage lediglich,
dass „Luxus für alle“ eine leere Parole ist, wenn damit die
schlichte Verallgemeinerung des in den reichen Industrieländern
entstandenen Produktions- und Konsumtionsmodells gemeint ist. Vor
allem eines sollte nicht aus dem Blick geraten: Rund die Häfte der
Menschheit hat keinen oder nur beschränkten Zugang zu fließendem
Wasser, zu Elektrizität oder zu Krankenhäusern. Hier nachzusatteln,
ist jedoch alles andere als klimaneutral. Das geht nur durch massive
Umverteilungen im globalen Maßstab – einschließlich materieller
Reduzierungen hierzulande.
Riva:
Die sofortige Erfüllung der Grundbedürfnisse steht ja völlig außer
Frage. Doch dazu würde schon die Umverteilung des Vermögens des
berüchtigten Fondsmanagers reichen, der in der Lage wäre, mit einem
einzigen Jahresgehalt die komplette Karibik mit Reis zu versorgen. Es
ist doch klar, wo das meiste zu holen ist, oder?
Luciente:
Geschenkt, natürlich muss von oben nach unten umverteilt werden.
Aber das ist gar nicht der springende Punkt. Denn langfristig kommen
wir allein aus klimapolitischen Gründen nicht um ein gänzlich neues
Verständnis von Luxus herum.
Riva:
Und genau das ist mir zu allgemein! Die konkreten Realitäten der
Menschen dürfen nicht unter den Tisch fallen, sonst bleibt das Ganze
moralisch und wird damit unpolitisch. Gerade Mobilität ist doch ein
zentrales Instrument, welches es MigrantInnen erlaubt, im globalen
Rahmen umzuverteilen. Konkreter: Viele MigrantInnen schuften unter
beschissensten Arbeitsbedingungen, allerdings nicht nur für ihre
nackte Existenz und nicht nur für sich. Rücküberweisungen gehen an
die Familien, um den Konsumstandard in den Herkunftsländern zu
erhöhen: für Handys oder Fernseher, Kühlschränke oder Autos.
Dieser Prozess läuft quer zum weltweiten Ausbeutungsgefälle, vor
allem findet hier ganz konkret die oft nur abstrakt geforderte
Umkehrung von Stoffströmen in den globalen Süden statt. Diese
vielleicht größte Umverteilung folgt häufig westlichen
Konsummustern. Aber willst du das alles stoppen, um das Klima zu
retten?
Luciente:
Es geht nicht um stoppen, aber darum, wie wir uns dazu ins Verhältnis
setzen – gerade in Zeiten des Klimawandels. Denn wer argumentiert
wie du, geht der Realität gleichsam auf den Leim. Mit deiner
Argumentation ist es zum Beispiel kaum noch möglich, die krassen
Arbeitsbedingungen zu kritisieren, unter den Gemüse oder Obst in
Europa produziert werden – im übrigen überwiegend von papierlosen
MigrantInnen!
Riva:
Zugespitzt würde ich schon sagen: Lidl ermöglicht ein gewisses Maß
an Luxus auch für Arme. Mit dem Angebot von Billiggemüse und Obst
ist doch eine zumindest etwas bessere Ernährung für mehr Leute
erschwinglich. Willst du dich hinstellen und sagen: Kauft alle Bio
und Fair Trade. Das ist doch ein Witz, wenn nur wenige sich das
überhaupt leisten können!
Luciente:
So ein Quatsch! Lidl & Co. sind selber für Armut
mitverantwortlich – ob durch beschissene Löhne oder Verdrängung
kleinerer Geschäfte. Anstatt dich zum Advokaten von
Dauertiefstpreisen aufzuschwingen, solltest du dich vielmehr für
bessere Löhne bzw. ein bedingungsloses Grundeinkommen stark machen.
Billige Preise gibt es nicht zum Nulltarif, sie gehen immer auf
Kosten von Menschen oder ökologischen Ressourcen – von
gigantischen Konzerngewinnen völlig abgesehen.
Riva:
Oh je, das ist wieder so ein linkes Glaubensbekenntnis. Du musst viel
stärker von den Interessen normaler Menschen ausgehen. Viele mögen
halt Orangensaft lieber als Apfelsaft – und das ist auch ok.
Genauso ok ist es, im Saunazentrum abzuhängen, in die Sonne zu
fliegen oder ein Faible für elektronische Geräte zu haben. Mit
Verzicht-Rhetorik a lá „wir müssen alle den Gürtel enger
schnallen“ lässt sich keine Hund hinter dem Ofen vorlocken –
denn das ist neoliberales Gewäsch und dient nur dazu, bestehende
Ungleichheiten zu verlängern.
Luciente:
Ganz ehrlich, mich nervt das: Immer dieses „Her mit dem schönen
Leben!“ und dann bleibst du doch den herrschenden Glücks- bzw.
Konsumversprechen verhaftet. Wichtiger sind meines Erachtens konkrete
Utopien: Gemächlich-faule Zugreisen statt überfüllter
Billigflieger – weil mehr Zeit durch weniger Arbeit da ist. Oder
Gemüse statt Industrieware – weil Tomaten nicht mehr auf Steinwolle
wachsen. Oder Lust auf Winter – weil das Leben nicht mehr eine
einzige Stressmaschine ist. Mit anderen Worten: Es geht nicht um
Verzicht, sondern um ein Plus an Lebensqualität.
Riva:
Und wie willst du deine Utopie umsetzen? Mir graust vor einer
Ökodiktatur, in der falsche und richtige Bedürfnisse gegeneinander
abgewogen werden. Am Ende mit streng berechnetem individuellen
Emissionsrecht. Ich bleibe dabei: in den ganz realen
Aneignungskämpfen liegt durchaus auch der Kampf um ein anderes,
schöneres Leben. Oder anders: Wenn sich Jungendliche Nike-Turnschuhe
klauen, ist das beides: Ausdruck von Zurichtung und Aneignung. Hier
regulierend einzugreifen – jetzt im Namen des Klimaschutzes –
leistet nur autoritären bzw. paternalistischen Staatsmodellen
Vorschub.
Luciente:
Stopp, du mogelst da wieder etwas rein, was niemand gesagt hat. Es
geht nicht um Ökodiktatur oder falsche Bedürfnisse. Es geht um eine
kollektive Verständigung darüber, welche Bedürfnisse in welchem
Umfang erfüllt werden können und welche nicht. Der 5-Jahresplan ist
zwar zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, nicht aber
die Idee einer bewussten und partizipativen, das heißt
nicht-marktvermittelten Wirtschaftsweise.
Riva:
Klingt schön! Mir geht aber trotzdem die Frage durch den Kopf, ob du
nicht erstmal genug haben musst, um zurückstecken zu können. Sind
solche utopischen Glücksversprechen aus einer anderen als einer
satten, privilegierten Position überhaupt denkbar? Die Realität
galoppiert einfach in eine andere Richtung! Was nutzt die schönste
Utopie, wenn sie dann an den prekären alltäglichen Realitäten
scheitert? Einfach weil die „Zurichtung“ auf bestimmte
Bedürfnisse zu stark ist. Weil sich alle abstrampeln müssen und bei
der Vorstellung langsamen Reisens nur müde mit dem Kopf schütteln
können. Die Linke muss aufhören, sich behaglich unter ihrem eigenen
Ideenhimmel einzurichten, sie muss viel stärker die Realität der
Menschen zur Kenntnis nehmen.
Luciente:
Stimmt, und doch ist es unsere Aufgabe als Linke, die Idee einer
völlig anderen Form des Arbeitens und Lebens aufrechtzuerhalten. Und
das wird nicht ohne Streit abgehen: Alle wissen zum Beispiel, dass
für Futtermittel riesige Regenwaldflächen abgeholzt werden – was
nicht nur mit dramatischen Klimaeffekten, sondern auch mit
massenhaften Landvertreibungen verknüpft ist. Trotzdem scheint der
tägliche Döner unter Linken heute salonfähiger denn je. Noch
durchgedrehter ist die Situation bei der Vielfliegerei.
Riva:
Also doch linke Sittenpolizei?
Luciente:
Du lenkst schon wieder ab! Gesellschaft lässt sich nicht durch einen
großen Masterplan verändern. Es geht vielmehr darum,
Widerständigkeit von 1000 Punkten aus zu organisieren, das heißt
Risse im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis müssen vertieft
werden, wo es nur geht. Hierzu gehört auch der Aufbau
gesellschaftlicher Gegenmacht von unten – etwa durch alternative
Produktions- und Handelswege.
Riva:
Ich glaub, ich krieg ’n Fön: Du redest von Utopie und bietest Fair
Trade als Lösung an. Die Priorität kann doch nicht auf der
Veränderung individueller Konsummuster liegen, die Veränderung
gesellschaftlicher Strukturen ist eine viel komplexere Frage.
Luciente:
Moment, genau darum geht es doch: Wenn Fair Trade in soziale
Bewegungen eingebettet ist – wie seinerzeit in die
Nicaragua-Solidarität, wenn auf ProduzentInnen- und
KonsumentInnen-Seite kollektive Strukturen geschaffen werden, wenn
ökologische Kriterien in der Produktion und bei den Handelsdistanzen
eine maßgebliche Rolle spielen etc. pp, dann hat selbst Fair Trade
das Zeug zur Keimform für eine ganz andere Gesellschaftlichkeit.
Riva:
Und trotzdem – ich finde, dass du dich viel zu stark auf die
gebildeten und meist besser situierten Teile der Bevölkerung
beziehst und ein linkes Modell von außen aufzäumst. Wenn wir das
herrschende Produktions- und Konsumtionsmodell tatsächlich aus den
Angeln heben möchten, dann müssen wir uns mehr in die Widersprüche
einlassen, ohne schon immer die vermeintlich korrekten Antworten in
der Tasche zu haben.
Luciente:
Ja, ja, aber es müssen alle Widersprüche auf den Tisch, nicht nur
jene, die zum eigenen Bedürfniskanon passen!Riva: Also doch linke
Sittenpolizei?
Luciente:
Du lenkst schon wieder ab! Gesellschaft lässt sich nicht durch einen
großen Masterplan verändern. Es geht vielmehr darum,
Widerständigkeit von 1000 Punkten aus zu organisieren, das heißt
Risse im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis müssen vertieft
werden, wo es nur geht. Hierzu gehört auch der Aufbau
gesellschaftlicher Gegenmacht von unten – etwa durch alternative
Produktions- und Handelswege.
Riva:
Ich glaub, ich krieg ’n Fön: Du redest von Utopie und bietest Fair
Trade als Lösung an. Die Priorität kann doch nicht auf der
Veränderung individueller Konsummuster liegen, die Veränderung
gesellschaftlicher Strukturen ist eine viel komplexere Frage.
Luciente:
Moment, genau darum geht es doch: Wenn Fair Trade in soziale
Bewegungen eingebettet ist – wie seinerzeit in die
Nicaragua-Solidarität, wenn auf ProduzentInnen- und
KonsumentInnen-Seite kollektive Strukturen geschaffen werden, wenn
ökologische Kriterien in der Produktion und bei den Handelsdistanzen
eine maßgebliche Rolle spielen etc. pp, dann hat selbst Fair Trade
das Zeug zur Keimform für eine ganz andere Gesellschaftlichkeit.
Riva:
Und trotzdem – ich finde, dass du dich viel zu stark auf die
gebildeten und meist besser situierten Teile der Bevölkerung
beziehst und ein linkes Modell von außen aufzäumst. Wenn wir das
herrschende Produktions- und Konsumtionsmodell tatsächlich aus den
Angeln heben möchten, dann müssen wir uns mehr in die Widersprüche
einlassen, ohne schon immer die vermeintlich korrekten Antworten in
der Tasche zu haben.
Luciente:
Ja, ja, aber es müssen alle Widersprüche auf den Tisch, nicht nur
jene, die zum eigenen Bedürfniskanon passen!
// Mobilisierungszeitung zum Hamburger Doppelcamp // Hrsg. von Transact! // August 2008 // Nr.1 //