Mayday, Mayday!


Die Paraden erzählen Geschichten des Alltags

Krise, Krise, Krise tönt es an allen Ecken. Für viele ist Krise unterdessen nicht neu: Leben in prekären Umständen ist schon immer permanente Krise. Bereits ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet in Deutschland zu prekären Bedingungen, und weltweit kämpft die Mehrheit bereits lange unter informellen Verhältnissen ums Überleben. Global betrachtet gab es nie ein »Normalarbeitsverhältnis«, von dem nun auch hierzulande endgültig Abschied genommen werden dürfte.

Schon vor acht Jahren zog die erste Euromayday-Parade durch Mailand. Unterschiedlichste prekäre Lebensbedingungen wurden darin sichtbar. Die oftmals leise und im Verborgenen stattfindenden Alltagskämpfe der Callcenter-Agents und »freier« Journalistinnen betraten gemeinsam mit denen papierloser Hausarbeiterinnen und langjähriger PraktikantInnen die europäische Bühne. Ihr Auftritt ließ erahnen, dass der »klassische« Streik schon lange nur eine Kampfform unter vielen ist. So wurde auch offensiv für Schutzehe zum Zweck der Aufenthaltssicherung geworben. In Berlin wurden rosa Einkaufswagenchips mit dem Aufdruck »Bezahlt wird nicht« verteilt, die (selbst-)ironisch die Themen »proletarische Selbsthilfe« und Ladendiebstahl aufgriffen. In Hamburg zogen SuperheldInnen in ein Delikatessengeschäft im Hafen, verteilten die Beute anschließend – und gingen weltweit durch die Presse.
Laut und schillernd, aber ohne den neuen Masterplan für die Revolution zu verkünden, erzählen die Paraden die Geschichten des Alltags, der Wünsche und Kämpfe derer, die als unorganisierbar gelten, weil eine Ich-AG keinen Ort des Streiks kennt. Weil das gesamte Leben durchzogen ist von breit gefächerten Formen von Entgrenzung und Entrechtung. Und weil der Praktikant bei der Berlinale wenig gemeinsam hat mit der statuslosen Pflegekraft im Privathaushalt. Auch über die Mayday-Paraden formuliert sich dementsprechend kein einheitliches Prekariat. Das war und ist nicht unumstritten, geteilt wird mittlerweile aber vor allem eine Erkenntnis: Es geht nicht um Vereinheitlichung, sondern um das Sichtbarmachen der Vielfältigkeit, sowohl der Lebensbedingungen als auch der Kampfformen. Die Mayday-Paraden sind an all diesen Orten ein praktisches Instrument, um diese Vielfalt zusammen und im besten Falle miteinander ins Gespräch zu bringen.

1. Mai 2008 in Mailand: Tausende MigrantInnen bilden die Spitze der mittlerweile auf 80.000 Menschen angeschwollenen Mayday-Parade. »San Precario« der Schutzheilige der Prekären, trägt nun die Kefiah, das Tuch der Palästinensischen Flüchtlinge. Eine zentrale Forderung ist die nach Entkoppelung von Aufenthalt und Arbeit. Euromayday ist unterdessen als Projekt durch ganz Europa gewandert: von Mailand nach Barcelona, von Helsinki bis Maribor, von Lissabon bis Kopenhagen. In Mailand ist eine weltweite Gewerkschaft der Prekären nach Vorbild der »Wobblies« auf dem Wunschzettel, ganz im Norden in Helsinki wird sich in Richtung Parlamentarismus orientiert, in Südspanien sind die Paraden bündelnder Ausdruck eines lebendigen Netzes aus sozialen Zentren, Hamburg arbeitet mit Freundeskreisen, in Berlin wird eher Bündnispolitik gemacht, in Liège spielt Subkultur eine große Rolle.

Die Mayday-Paraden sind lebendiger Ausdruck von Zersplitterung und sprechen von Vielfalt, sie sind Bündelungspunkt für die Vielheit, sie feiern den Alltagswiderstand: Karneval im althergebrachten Sinne. Transportiert wird der Optimismus und die Hoffnung derer, die oft genug ausgebrannt, verzweifelt und erschöpft sind und trotzig verkünden: »Die Krise ist eine Welle, du kannst sie surfen!« Bündelungspunkt für Mut und Wut und Sehnsucht nach dem Anderen.

Danach kommt, was in Italien »Longo-Mayday« genannt wird. Die Suche nach Kontinuität. Die Suche nach einer gemeinsamen Sprache und nach effektiven Praktiken gegen die kontinuierliche Prekarisierung von Leben und Arbeit. Die Suche, wie die Spaltungen zu überwinden wären. Die Suche nach beispielhaften Momenten von Kämpfen, in denen es möglich ist, etwas zu gewinnen. Und wie soziale Kämpfe in Krisenzeiten zu führen sind. Let’s go for the long-run!

// Krise & soziale Kämpfe: Fragen, Debatten, Strategien
zur aktuellen Situation // Hrsg. von Transact! // Frühjahr 2009 // Nr.2
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