Über Umwege vom Mittelmeer nach Budapest


Ein Aktivist des NoBorder Camps in Lesvos berichtet.

Der folgende Bericht eines NoBorder-Aktivisten wurde im August 2009 am NoBorder Camp 2009 in Lesvos, Griechenland, aufgezeichnet.

Ich bin Palästinenser und lebe heute in Budapest, Ungarn, wo ich als anerkannter Flüchtling registriert bin. Während meiner Reise kam ich zunächst durch Jordanien und Syrien, all das „legal“. In Jordanien hatte ich 40 Tage, um das Land zu verlassen. In Syrien konnte ich drei Monate bleiben, das entsprechende Papier ist aber sehr schwer zu verlängern. Also reiste ich weiter in die Ukraine, mit dem Vorhaben, von dort aus in die EU einzureisen. In der Ukraine suchte ich um Asyl an. Mir wurde gesagt, dass ich kein Asyl bekommen würde und dass ich abgeschoben werden müsse. Zunächst mal wurde ich aber zur palästinensischen Botschaft geschickt – natürlich gibt es keine Botschaft im eigentlichen Sinn, da Palästina kein Staat ist, es gibt aber eine diplomatische Vertretung. Die konnten dort aber gar nichts mit mir anfangen, und ich wurde einfach ohne Dokumente auf die Straße gesetzt.

Ich fasste also den Entschluss, mich nach Westen aufzumachen und die Grenze zur EU zu Fuß zu überschreiten. Bei diesem Versuch ging ich in die Fänge der slowakischen Grenzkontrolle und wurde, obwohl ich klar sagte, dass ich in der Slowakei um Asyl ansuchen wolle, der ukrainischen Grenzpolizei übergeben. Es handelte sich also um eine illegale Rückschiebung, um „Refoulement“. Nachdem ich drei Tage in einer kleinen Grenzwachstation verbracht hatte, wurde ich nach Chop gebracht, einem Grenzort an der ukrainisch-slowakisch-ungarischen Grenze. Dort befindet sich die Zentrale der Grenzpolizei. Die meisten Migranten – es ist ein Lager ausschließlich für Männer – bleiben dort ca. ein Monat, bevor sie in ein größeres Abschiebelager gebracht werden. In Chop waren so viele Leute reingezwängt, dass du nicht mal den Boden gesehen hast; du konntest kaum über die Leute drübersteigen. Betten gab es keine. Es gab nur eine Toilette und diese war draußen, in der Kälte, ohne fließendes Wasser – es gab nur ein großes Fass, das täglich von den Wachen aufgefüllt wurde. Wie man sich vorstellen kann, wurden auf diese Weise sehr leicht Krankheiten übertragen. Eine Menge Leute bekamen demnach Hautkrankheiten oder hatten Magenprobleme. Wir durften nur zwei Mal pro Tag auf die Toilette gehen. Wir mussten uns dafür anstellen, dabei kam es immer zu Streit. Das Essen bestand aus den Überresten aus der Küche des Wachpersonals. Alles wurde zusammengemischt und neu aufgekocht – echt Scheiße. Pro Raum gab es nur ein Fenster, hinter dem in einem halben Meter Entfernung eine Mauer hochragte. Die Leute verwendeten dieses Fenster, um rauszupinkeln, denn untertags durfte man ja nicht aufs Klo gehen. Chop war das schlimmste geschlossene Anhaltelager, das ich bis jetzt gesehen habe. Nachdem sie in Chop waren, werden die meisten Flüchtlinge ins Flüchtlingslager Pawshino gebracht, in der Nähe der Stadt Mukatchevo. Dieses Flüchtlingslager war früher eine Militärbasis der Sowjets, in der Nuklearraketen stationiert waren. Sein Zustand war desolat, überall gab es große Ratten. Es gab weder richtige Betten noch richtige Decken oder Bettzeug, einige schliefen sogar draußen in Zelten. Es gab einen großen rostigen Behälter mit gelbem, ungenießbarem Wasser. Ich war während des Winters in Pawshino, was die Lage noch unerträglicher machte. Wir bekamen keinerlei Hygieneprodukte. Ich blieb sechs Monate in Pawshino – die Höchstdauer. Dann schickten sie mich erneut zur diplomatischen Vertretung Palästinas. Dort sagten sie wieder: „Wir wissen nicht, was wir mit diesem Typen tun sollen“; diesmal vermittelte man mich aber nach Kiew zum UNHCR. Dort hatte ich ein Interview und bekam ein temporär gültiges Dokument. Dieses Dokument ist aber nicht rechtsbindend, es bietet lediglich eine gewisse Sicherheit, falls du verhaftet wirst und Unterstützung eines Anwalts oder eine Übersetzung brauchst. Jedenfalls ist es sehr schwierig, palästinensische Flüchtlinge abzuschieben, da es keinen palästinensischen Staat gibt und Israel palästinensische Flüchtlinge nicht annimmt. Da ich ja in Ushgorod politisches Asyl beantragt hatte, reiste ich wiederum dorthin und wurde nochmal bei der Immigrationsbehörde vorstellig. Ich musste eine ganze Stange Geld für Übersetzung bezahlen, außerdem Geld, damit ich überhaupt offiziell von Pawshino freikam.

NoBorder Camp 2007 in Ushgorod, Ukraine

In dieser Zeit, also im Sommer 2007, war es auch, als ich die AktivistInnen des NoBorder Camps kennenlernte. Während eines Konzerts anlässlich des Camps in Ushgorod traf ich einen Aktivisten und wurde von ihm eingeladen, über Pawshino zu berichten. Ich willigte ein, fuhr zum Camp mit und nahm an den Workshops und Protesten teil. Nach dem Ende des Camps erhielt ich einen negativen Asylbescheid, worauf ich in die zweite Instanz ging und somit einen Monat Zeit gewann. Ich wusste, dass sich ab diesem Zeitpunkt die verschiedenen Phasen, die ich bereits erlebt hatte, wiederholen würden: Ich würde wieder ohne Papiere dastehen, in Pawshino eingesperrt werden, rauskommen, nicht abgeschoben werden können usw. usf. Ich beschloss also, das Land zu verlassen. In Ushgorod lernte ich einen Taxifahrer kennen, der mich an einem Sonntagmorgen, zwei Stunden vor Sonnenaufgang, in die Nähe der ungarischen Grenze brachte. Der Grenzübertritt klappte, als ich allerdings in sicherer Distanz der Grenze an einer Zugstation in Ungarn ein Ticket kaufen wollte, wurde ich von Grenzpolizisten kontrolliert und erneut festgenommen. Das ganze spielte sich aber relativ relaxed ab, ich wollte ja ohnehin in Ungarn um Asyl ansuchen. Es wurde ein Interview gemacht, danach wurde mir gesagt, dass ich zurück in die Ukraine abgeschoben würde. Ich entgegnete, dass ich auf keinen Fall in die Ukraine zurückgehen würde. Meine Entscheidung stehe felsenfest. Ich bestand darauf, jemanden von den Immigrationsbehörden zu sprechen. Sie brachten mich in ein geschlossenes Abschiebelager in der Nähe von Nyirbátor. Ich blieb dort 20 Tage, meine Fingerabdrücke wurden abgenommen. Danach wurde ich in ein offenes Flüchtlingslager bei Debrecen transferiert, da mein Asylantrag zur Bearbeitung angenommen worden war. Ich ließ nicht locker, betonte, dass ich im Fall einer Abschiebung nicht kooperieren würde, dass es sich um Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention handeln würde usw. usf. In Debrecen besuchte mich auch eine Delegation von NoBorder-AktivistInnen, die ich ein halbes Jahr zuvor in Ushgorod kennengelernt hatte. Ich weiß nicht, was schließlich dazu geführt hat, dass von einer Abschiebung in die Ukraine Abstand genommen wurde. Vielleicht dachten sie, der Typ redet zu viel, lassen wir das. In jedem Fall weiß ich – weil ich später Einsicht in die Unterlagen erhalten habe –, dass meine Abschiebung bereits vorgesehen war.

Das offene Flüchtlingslager in Debrecen ist nicht vergleichbar mit Pawshino oder anderen Knästen. Es gab saubere Räume, anständiges Essen, Hygieneartikel, man konnte rausgehen etc. Nach drei Monaten in Debrecen kam die positive Entscheidung über meinen Asylantrag, worauf ich nach Budapest ziehen konnte. Ich blieb mit den AktivistInnen des NoBorder Networks in Kontakt, und wir etablierten gemeinsam mit dem Helsinki Comitee Budapest eine Arbeitsgruppe zu Asyl und Menschenrechten in Ungarn. Bereits 2007 hatten wir beschlossen, gemeinsam eine Kampagne für die Schließung von Pawshino zu beginnen. In Ungarn gründeten wir dann auch eine grenzüberschreitende Border Monitoring-Gruppe, die die Situation an den Ostgrenzen Ungarns beobachten und regelmäßige Berichte über die Anhalte- und Abschiebelager veröffentlichen sollte.

NoBorder Camp 2009 in Lesvos, Griechenland

Das NoBorder Camp hier in Lesvos ist eine wunderbare Gelegenheit, sich zu treffen und die nächsten Schritte unserer Arbeit zu besprechen. Wir stellen unser Engagement auch in einen größeren Kontext, da wir wissen, dass hier die gleichen Probleme bestehen wie an der Grenze zwischen Ungarn und der Ukraine. Wir kämpfen in erster Linie gegen illegale Rückschiebungen (Refoulement), gegen das Anhaltelager Pagani und gegen die europäische Grenzschutzargentur FRONTEX. Pagani ist eines der schlimmsten Flüchtlingslager, die ich je gesehen habe. Wir wollen die Realität dieses Gefängnisses ans Licht der Öffentlichkeit bringen und Druck auf die politischen Verantwortlichen ausüben, damit Pagani geschlossen wird. Ich war während unserer Proteste mit einer internationalen Delegation im Lager und übersetzte für die Flüchtlinge. Dort leben 100 bis 150 Menschen in einem Raum, der 15 mal 20 Meter groß ist. Für jeden dieser Räume gibt es nur eine Toilette und eine Dusche. Der Müll wird nicht abgesammelt, es gibt nicht genügend Betten, sodass Menschen am Boden schlafen müssen. Das schlimme ist, dass alles in einem engen Raum stattfindet und dass Krankheiten sich auf diese Weise sehr leicht verbreiten. Viele haben Hautkrankheiten, Magenprobleme oder Augenschmerzen und ich denke, dass viele InsassInnen lange krank sein werden, nachdem sie Pagani verlassen haben, manche Schäden könnten sogar irreparabel sein. Ich verstehe beim besten Willen nicht die Logik, Leute in einem geschlossenen Lager wie Pagani bis zu drei Monaten einzusperren. Manchmal wird gesagt, dies werde getan, um Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Griechenland einzureisen. Der größte Teil der MigrantInnen kommt aber aus Regionen, die vom Krieg zerrüttet sind und in denen sie täglich der Gefahr ausgesetzt sind, ihr Leben zu verlieren. Sie werden sich also nicht davon abhalten lassen, zu kommen. Andere MigrantInnen kommen auf Grund von Arbeitslosigkeit, Elend und Hunger. Sie sind ebenfalls bereit, ein hohes Risiko einzugehen. Die Fluchtursachen selbst haben aber auch oft direkt mit der Politik der EU zu tun: Viele Menschen aus Westafrika verlassen ihr Land, weil Fischerflotten aus der EU die Küsten ihrer Länder leer fischen. Dasselbe gilt für Rohstoffabbau, für Gold, Diamantenhandel etc. etc.

Ich bin der Auffassung, dass alle Anhaltelager geschlossen werden sollten. Es sollten offene Welcome Centers eingerichtet werden, in denen die Leute ankommen können und mit dem Notwendigsten versorgt werden. Am schlimmsten ist für mich die Situation der Kinder in Pagani. Ein zwei- oder vierjähriges Kind hat natürlich keinen Begriff davon, was ein Gefängnis ist, aber es merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. V. a. merkt es, wie die Würde der Mutter von den Wachen gebrochen wird und wie die Familien getrennt werden. Diese Dinge sind also sehr, sehr schwerwiegend. Sie sind schlimmer, als wir es jemals in diesem Interview klar machen können. Es bräuchte unbedingt SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, AnwältInnen usw., um die Lage zu erfassen und die Konsequenzen dieser Inhaftierung zu erkennen. Ich bin der Auffassung, dass alle Menschen, die durch diese Hölle von Pagani gegangen sind, noch Jahre danach Therapie bräuchten, um ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Ich glaube, dass die Regierung Griechenlands gar nicht richtig realisiert, was hier passiert und warum solche eine Situation überhaupt aufrecht erhalten werden muss. Es ist eine simple, aber nicht unwesentliche Frage: Wozu ein geschlossenes Lager? Ein Gefängnis! Diese Leute sind keine Kriminellen!

Ich denke, dass die NoBorder Camps sehr, sehr wichtige Events sind, um die Lage zu verändern. Hier kommen Menschen aus verschiedensten aktivistischen Zusammenhängen, sowie Ex-Häftlinge aus Flüchtlingslagern zusammen, um Strategien für eine Überwindung dieses rassistischen Systems zu finden. Wir wählen zusammen ein target, z. B. Pagani, und diskutieren es von verschiedensten Blickwinkeln aus, um dann aktiv zu werden. Was wir hier tun – ob es unser Umgang mit der Riot Police ist, unsere Verhandlungen mit den Behörden, um Inhaftierte zu entlassen usw. – kann auch als eine wichtige Erfahrungsgrundlage für zukünftige Aktivitäten gelten. Wir stellen also auch Widerstands-Know How her. Das wichtigste ist, weiterhin Druck gegenüber den politischen Verantwortlichen aufzubauen, um die Situation nachhaltig zu verändern. Für die Inhaftierten in jeglichen Flüchtlingslagern ist es auch entscheidend zu wissen, dass es Menschen gibt, die sich für ihr Schicksal interessieren, die auf ihrer Seite stehen und die davon überzeugt sind, dass sie Rechte haben wie alle anderen auch.

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