Transnationaler Vernetzungsprozess beim Nobordercamp in Lesbos im August 2009


Bericht zur Teilnahme der AktivistInnen u.a. aus der Ukraine, Mali und Mauretanien  

1.) Hintergrund des Nobordercamps und erste Bilanz der Protestwoche

5 – 600 TeilnehmerInnen sind zum einwöchigen Nobordercamp Ende August nach Lesbos gekommen. Die griechische Insel nahe der Türkei wurde in den letzten Jahren zunehmend zum Anlandepunkt für Bootsflüchtlinge, die zunächst mit militarisierten Massnahmen der griechischen Küstenwache sowie der europäischen Grenzschutzagentur Frontex konfrontiert sind. Vielfach dokumentiert sind illegale Rückschiebungen (Refoulement) in die Türkei und Misshandlungen bis zu Folter gegenüber ankommenden Flüchtlingen. Von den Grenztruppen abgefangen oder auf der Insel aufgegriffen, werden alle Flüchtlinge und MigrantInnen – Männer, Frauen, Kinder – in einem geschlossenen Lager (in Pagani) interniert, häufig für Monate unter unmenschlichen Bedingungen.
AktivistInnen und Delegierte aus vielen verschiedenen Ländern waren vor diesem Hintergrund zu vorbereiteten Workshops und Vernetzungstreffen angereist, aber auch um ganz praktisch gegen diese systematischen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Sie kamen aus den Niederlanden und Frankreich, aus Spanien und Italien, aus Österreich und Deutschland, aus Polen, Ungarn und Rumänien, aus England und Schweden, aus Weißrussland und Ukraine, aus Mali und Mauretanien, aus der Türkei und Griechenland. Und spontan vom ersten Tag an beteiligten sich auch viele der von Internierung betroffenen oder gerade erst auf Lesbos angekommenen Flüchtlinge und MigrantInnen, vorwiegend aus Afghanistan, Iran und Irak, aus Somalia, Eritrea und Äthiopien!
Für ein Nobordercamp war dies eine bislang einzigartige Erfahrung, in dieser Zusammensetzung gemeinsam mit den Betroffenen konkrete Verbesserungen zu erkämpfen und gleichzeitig das repressive System von Flüchtlingsabwehr und Internierung bis auf internationaler Ebene in die öffentliche Kritik zu bringen. Ausschnitte aus dem Videofilm über die Zustände in Pagani wurden sogar auf CNN ausgestrahlt.
Und nicht zuletzt ist es mit der Protestwoche gelungen, die Flüchtlingsunterstützungsgruppe in Mytilini für ihre weitere tägliche Arbeit zu ermutigen und ihre lokale Basis zu stärken.

2.) Die EU-Außengrenzen und parallele Prozesse der Externalisierung

Die Externalisierung oder Vorverlagerung der Grenzkontrollen und Flüchtlingsabwehr ist eine wesentliche Entwicklung der EU-Migrationspolitik der letzten Jahre. Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze mit regelmäßigen Frontex-Operationen, systematischem Refoulement und abschreckender Internierung ist insofern nur ein exemplarischer Brennpunkt. Ähnliche Bedingungen und Vorgehensweisen lassen sich an den osteuropäischen EU-Außengrenzen insbesondere zur Ukraine finden, aber auch im weiteren Mittelmeerbereich zwischen Italien und Libyen oder Spanien und Marokko. Doch der Externalisierungsprozess ist damit nicht an seinem geographischen Ende.  Einerseits patroullieren Frontex-Boote längst unmittelbar vor der westafrikanischen Küste bis nach Senegal, zum anderen wird versucht, Regierungen von Ländern wie Marokko, Mauretanien oder Mali immer stärker in die Konzepte der vorverlagerten Migrationskontrolle einzubinden.  
Vor diesem Hintergrund paralleler repressiver Entwicklungen an den unterschiedlichen EU-Außengrenzen war es ein Ziel des Nobordercamps auf Lesbos, einen diesbezüglichen Austausch- und Netzwerkprozess in Gang zu bringen. Mit der Beteiligung von Vertretern und AktivistInnen aus Weissrussland, aus der Ukraine, aus der Türkei, aber auch aus Mauretanien und Mali waren unterschiedliche Erfahrungswerte jenseits der EU-Außengrenzen präsent.

3.) Workshopdiskussionen und -verabredungen

An einem Eröffnungsworkshop zu Beginn der Campwoche haben alle VertreterInnen aus diesen Ländern ihre jeweilige Arbeit kurz vorgestellt, über 150 CampteilnehmerInnen hatten daran Interesse und haben zugehört. In mehreren Workshops der folgenden Tage wurden dann spezielle Fragestellungen vertieft: Wie können wir gemeinsam die illegalen Rückschiebungen (Refoulement) an den verschiedenen Außengrenzen öffentlich thematisieren und skandalisieren, um sie zu stoppen bzw. Flüchtlingen den Zugang zu Asylverfahren zu ermöglichen? Wie können wir gleichzeitig einem zentralen Diskurs der herrschenden Asylpolitik wie auch der Medien widersprechen, nämlich der Spaltung bzw. dem Gegeneinander Ausspielen von „guten Flüchtlingen“ und „bösen illegalen MigrantInnen“? Wie stehen wir zu Forderungen von Flüchtlingen und inzwischen auch der EU-Kommission nach (mehr) Resettlement(plätzen) bei gleichzeitiger Aufrüstung der Grenzen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit, auch schon außerhalb der EU? Welche gemeinsamen Schritte sind denkbar, um die begonnene Kampagne gegen die Grenzschutzagentur Frontex weiterzuführen und zu verstärken?

In einer kleineren Arbeitsgruppe mit Oksana P. aus Ushgorod und Deep aus Budapest hat sich das Bordermonitoring Projekt Ukraine über die nächsten Schritte für eine öffentliche Initiative zum Refoulement abgestimmt. Gleichzeitig wurden neue Kontakte, insbesondere in die Türkei, geknüpft, um regionenübergreifende Aktivitäten gegen die illegalen Abschiebungen in Gang zu bringen. Zu Frontex wurden in einem Workshop mit 60 TeilnehmerInnen praktische Vorschläge für koordinierte Proteste gesammelt und eine Deklaration aus dem Blickwinkel der Nicht-EU-Delegierten erarbeitet.

Vorgeschlagen wurde zudem in weiteren Gesprächen, sich im Rahmen des Europäischen Sozialforums (ESF) im Herbst 2010 in Istanbul wieder zu treffen. Dies sei ein Ort, von dem aus das EU-Grenzregime besonders scharf kritisiert werden könne und müsse, zumal der EU die Einbindung der türkischen Regierung in die Migrationskontrolle immer wichtiger würde. Die Beteiligung von Gruppen aus Istanbul, Ankara und Izmir am Nobordercamp auf Lesbos und ihre Einbeziehung in den transnationalen Netzwerkprozess bieten da nun erweiterte Möglichkeiten.

Die afrikanischen Gäste aus Mauretanien und Mali betonten ihr Interesse, das im Januar 2011 in Dakar stattfindende Weltsozialforum (WSF) in Dakar in die längerfristigen Planungen einzubeziehen. Schon in den kommenden Monaten soll mittels gegenseitigen Treffen und Rundreisen die Zusammenarbeit zwischen Menschenrechtsorganisationen in Mauretanien, Mali und Senegal verstärkt werden, um gegen Lager und Abschiebungen (innerhalb der westafrikanischen Länder) aktiv zu werden.  

Bezüglich einer gemeinsamen Kampagne gegen Frontex standen praktische Fragen im Mittelpunkt: Verbreitung von Informationen (z.B. Übersetzung einer Broschüre zu Frontex), Öffentlichkeitsarbeit gegen Frontex und die Unterstützung und Koordination unterschiedlicher lokaler Initiativen.

4.) Praktische Aktivitäten der internationalen Gäste auf Lesbos

Die internationalen Gäste waren nicht nur an diesen (eher intern ausgerichteten) inhaltlichen Debatten beteiligt sondern auch in vielfältiger Form praktisch (und öffentlichkeitswirksam) aktiv. Amadou M. (AMDH/Mauretanien) und Ousmane D. (AME/Mali) haben Radiointerviews gegeben, sie waren bei Besuchen in Pagani dabei und haben Redebeiträge während der Anti-Frontex-Demonstration im Hafen von Mytilini gehalten. Deep (Bordermonitoring Projekt Ukraine/Ungarn) war Mitglied der Besuchsdelegation in Pagani und hat dazu ein Video-Interview veröffentlicht. Er kennt aus eigener Erfahrung die Abschiebe- und Internierungslager an der ukrainisch-ungarischen Grenze, er war selbst von illegaler Rückschiebung (Refoulement) betroffen, hat es aber im zweiten Anlauf geschafft und ist mittlerweile als palästinensischer Flüchtling in Ungarn anerkannt. Für die arabisch sprechenden MigrantInnen auf Lesbos war er während des Camps zudem permanent als Übersetzer aktiv.
„Frauen und Kinder in solch ein Gefängnis einzusperren, das wäre selbst in Mauretanien unvorstellbar.“ Amadou M. von der AMDH in Nouakchott war regelrecht geschockt, als er die unmenschlichen Zustände im geschlossenen Lager Pagani erleben musste. Ausnahmslos alle neuankommenden Flüchtlinge und MigrantInnen werden dort bisweilen monatelang interniert. Ousmane D. von der AME aus Bamako ging es kaum anders. „Für uns in Afrika ist nicht nachvollziehbar, warum MigrantInnen in Europa wie Banditen oder Tiere behandelt werden“. Amadou und Ousmane waren zur antirassistischen Protestwoche auf Lesbos eingeladen worden, um den in den letzten Jahren begonnenen euro-afrikanischen Netzwerkprozess weiterzuentwickeln. Ihr besonderes Interesse galt dem Workshop, in dem über die transnationale Kampagne gegen Frontex beraten wurde. Denn die europäische Grenzschutzagentur patroulliert in der Ägäis gleichermaßen wie vor der westafrikanischen Küste, jeweils mitverantwortlich für die steigende Zahl ertrunkener Boatpeople. Amadou war vor diesem Hintergrund schon im Juni 2008 bei der Protestaktion vor der Frontex-Zentrale in Warschau dabei. Und er wie auch Ousmane ließen es sich nicht nehmen, bei der Anti-Frontex-Demonstration des Nobordercamps im Hafen von Mytilini in der ersten Reihe zu laufen.

Zusammenfassend kann bilanziert werden, dass die Teilnahme der osteuropäischen wie afrikanischen Gäste vor allem auf inhaltlicher aber auch auf praktischer Ebene zum erfolgreichen Verlauf des Nobordercamps beigetragen hat und damit der transnationalen Vernetzungsprozess neue Impulse bekommen hat.

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