Pagani geschleift – und einige Bausteine des EU-Grenzregimes am Wackeln?


Ende Oktober konnten wir auf Lesbos miterleben, wie der Internierungsknast Pagani von den Insassen regelrecht geschleift und dann – zumindest vorübergehend – von den Behörden geschlossen wurde. Zu dieser beachtlichen Entwicklung hatte nicht zuletzt die Dynamik des Nobordercamps im August beigetragen. Die Herausforderung ist nun, diesen kleinen Erfolg gegen das EU-Grenzregime in Griechenland und auch hier auszubauen.

Der letzte Abend von Pagani: die verbliebenen 130 Gefangenen wissen, dass sie am nächsten Tag freigelassen werden müssen. Sie hatten schon in den letzten Tagen ihre Zellentüren aufgebrochen und bewegen sich frei in den Gebäuden und im Hof des einstmaligen Warenlagers (1). Um für eine „Abschiedsparty“ Zigaretten und Alkohol zu holen, klettert ein Flüchtling über den Stacheldrahtzaun und kauft bei der nahegelegenen Tankstelle ein. Erst beim zweiten Mal, als er Nachschub holen will, wird er von der Polizei, die sich mittlerweile auf die „Außensicherung“ beschränkt, bemerkt und angehalten. Auf die Ansprache, er könne hier nicht einfach abhauen, erwidert er, dass er doch nur einkaufen gehen wolle und dann zurückkäme. Und wenn sie das nicht erlauben, dann gebe er ihnen eine Einkaufsliste und Geld, damit sie – die Polizei – für die Gefangenen die Besorgungen erledigt. Da bietet der Polizist lieber an wegzusehen, bis der Gefangene mit seinem Einkauf zurückkommt.

Nachwirkungen von Noborder

In Pagani kam es bereits vor und dann während des Nobordercamps im August zu vielfachen Protesten der eingesperrten Flüchtlinge und MigrantInnen. Trotz internationaler Öffentlichkeit erschien die Durchsetzung der Schließung aber zunächst in weiter Ferne. Eine Gruppe afghanischer Jugendlicher, die die Noborder-Abschlussparty mit einem „nächtlichen Dauertanz gegen Taliban und Grenzregime“ geprägt hatten, wurde am Tag darauf beim Versuch, unregistriert auf die Fähre nach Athen zu gelangen, kontrolliert und inhaftiert. Von einigen haben wir uns in den Tagen nach dem Camp noch einmal in Pagani durch die Zellenfenster zurufend verabschieden können. Sie haben damals versprochen, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen – und das haben sie gehalten! Als sie und einige Mitgefangene Mitte September ohne jede gesundheitliche Versorgung und quasi ohne Hofgang in einer immer verzweifeltere Lage gerieten, haben sie zunächst einen Hungerstreik angefangen und dann aus Protest ihre Zelle angezündet. Das war nicht ungefährlich, weil die Polizei die Türen nicht öffnete und einige der Jugendlichen Rauchvergiftungen erlitten. Doch es gelang ihnen, ein Fenster aufzuhebeln und auf die Vordächer zu klettern. Zwei Tage später waren sie frei (2). Und es gibt gute Gründe zu behaupten, dass dieses erste Feuer der Anfang vom Ende von Pagani war. Die Medien wurden erneut aufmerksam, und schon Mitte Oktober kam es zu einer weiteren Revolte mit Zellenbrand.

Mit Feuer gegen „Dantes Inferno“

Anfang Oktober kam es bei den Wahlen in Griechenland zu einem Regierungswechsel. Das neue Innenministerium setzt grundsätzlich wie das alte auf verschärfte Grenzkontrollen und eine intensivere diesbezügliche Kooperation mit der Türkei. Gleichzeitig soll aber ein gewisser Veränderungswille demonstriert werden. Vor diesem Hintergrund und dem anhaltenden Skandalthema Pagani reiste der Vize-Innenminister der neuen Regierung nach Lesbos. "Schlimmer als Dantes Inferno" lautete seine medienöffentliche Aussage nach der Besichtigung von Pagani, wo er direkt mit den unhaltbaren Zuständen und den Protesten der eingesperrten Flüchtlinge konfrontiert war. Er sagte ausdrücklich, Pagani müsse geschlossen werden. Ob und wann diesen klaren Worten konkrete Taten folgen würden, blieb zunächst unklar. Und ohne die Fortsetzung der Proteste wäre womöglich weitere Monate nichts passiert. Doch die Gefangenen legten nach. Trotz und gegen brutale Übergriffe der Polizei wurde an zwei aufeinanderfolgenden Abenden erneut Feuer gelegt (3). Eine Zelle blieb über Nacht auf, die Polizei geriet wegen kritischer Zeitungsberichte über ihre Prügelattacken weiter in die Defensive. Einen Tag später wurden bei den meisten Zellen die Gittertüren aufgebrochen, die Polizei gab es zum ersten Mal auf, die Flüchtlinge wieder zurückzusperren und beschränkte sich auf „Außenpräsenz“. Und dann ging es schneller als erwartet: einer Pressekonferenz direkt vor dem Knastgebäude und einer Demonstrationsankündigung einer zwischenzeitlich neu entstandenen Solidaritätsgruppe aus Mytilini folgte Tags darauf die Stellungnahme des  Präfekten, dass Pagani geschlossen würde.

Erster Erfolg, aber noch kein Welcome Center

Die kontinuierlichen Revolten der Gefangenen und das Weitergeben der Widerstandserfahrungen an die jeweils Neuankommenden haben für anhaltenden Druck von innen gesorgt. Dazu kamen die Öffentlichkeit und Proteste von außen. Doch dieser wichtige Erfolg darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der zweite Teil der schon beim Nobordercamp aufgestellten Sofortforderungen bislang unerfüllt bleibt: die Einrichtung offener Aufnahmeeinrichtungen. Erst damit würde ein Bruch des bisherigen Haftregimes und seiner Abschreckungspolitik vollzogen. Denn aktuell werden die auf Lesbos neu angelandeten bzw. aufgegriffenen Flüchtlinge und MigrantInnen nach wenigen Tagen ins Internierungslager auf die Nachbarinsel Chios verbracht. Angekündigt wurde auch, Pagani entweder zu renovieren oder ein anderes neues geschlossenes Lager auf Lesbos aufzumachen. Aber mit der Schließung von Pagani sind die Chancen gewachsen, dass durch weitere Kämpfe der Flüchtlinge sowie mit kontinuierlichen Protesten der Initiativen in Lesbos und in Griechenland der neuen Regierung weitere Zugeständnisse abzuringen sind. Denn gewisse Spielräume und EU-interne Widersprüche sind gegeben, auch wenn der Druck der westeuropäischen EU-Regierungen anhält, dass Griechenland die Außengrenzen noch dichter macht.

EU-Grenzregime und Dublin II

Die Praxis der griechischen Küstenwache und die militarisierten Einsätze von Frontex, systematische Rückschiebungen (Refoulement) in die Türkei und das abschreckende Haftregime sind zentrale Bestandteile der Externalisierung der EU-Migrationspolitik. Dublin II, die sog. Asylzuständigkeitsverordnung, bildet ein weiteres zentrales Instrument der Auslagerung. Indem Flüchtlinge verpflichtet sind, im EU-Land ihrer ersten Registrierung Asyl zu suchen, kommt es mittlerweile jedes Jahr zu Tausenden von Dublin-Rückführungen, vor allem in die südlichen und östlichen EU-Länder. Die westeuropäischen Staaten, allen voran deutsche und französische Regierungen, haben dieses Vertragswerk in den letzten Jahren systematisch vorangetrieben und mit einem europäischen Fingerabdrucksystem perfektioniert, um über Land und See einreisenden Flüchtlingen den Zugang nach Westeuropa zu verweigern. In der Konsequenz sehen sich Flüchtlinge z. B. aus Afghanistan, Irak oder Somalia, die sich über die ägäischen Inseln und Athen doch irgendwie zu ihren Verwandten und Bekannten nach Nord- oder Westeuropa durchgeschlagen haben, mit Inhaftierung und Rückschiebung nach Griechenland konfrontiert. Ausgenommen wurden in Deutschland und in einigen anderen EU-Ländern mittlerweile unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern und kranke Menschen – allerdings erst nach starken Protesten. Tausende von Flüchtlingen und MigrantInnen stecken obdachlos in Athen fest, der Zugang zum dortigen Asylverfahren ist im seltensten Fall gegeben, die Anerkennungsquote liegt bei unter 2 %.

Verantwortliche in Berlin, Nürnberg und Dortmund

Nichtsdestotrotz werden immer wieder – auch aus Deutschland – Flüchtlinge nach Griechenland abgeschoben. Das Bundesinnenministerium in Berlin trägt die politische Verantwortung für die Dublin-Abschiebungen. Von dort kommen die zentralen Richtlinien, die von Bundesamt und Bundespolizei umgesetzt werden. Im Nürnberger Bundesamt für Migration steuert das Referat 430 die gesamten Dublinverfahren und bearbeitet Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung. Hier werden Dienstanweisungen erarbeitet und grundlegende Absprachen mit den EU-Mitgliedstaaten getroffen. Die Dortmunder Außenstelle des Bundesamtes organisiert die konkreten Übernahmeersuchen mit den Mitgliedstaaten und schickt auch sog. Liaisonbeamte zur Recherche und Koordination z.B. nach Italien und Ungarn. Aus Dortmund kommen auch die Abschiebebescheide, die Rückschiebungen werden dann von den jeweiligen Ausländerbehörden und der Bundespolizei durchgeführt.

Dublin II auf der Kippe?

Nach ersten Entscheidungen auf Verwaltungsgerichtsebene hat Anfang September erstmals das Bundesverfassungsgericht einem entsprechenden Eilantrag eines irakischen Mannes stattgegeben und die geplante Abschiebung nach Griechenland untersagt. Weitere Beschlüsse aus Karlsruhe und anderen Gerichten folgten. Nichtsdestotrotz weigern sich das Bundesinnenministerium (nun unter dem neuen IM Maziere) und das Bundesamt für Migration bislang, die Dublin-Abschiebungen nach Griechenland generell auszusetzen. Abschiebung um jeden Preis erscheint einmal mehr als Devise einer Regierung, die als treibende Kraft für die Vorverlagerung der Migrationskontrolle und für eine Abschreckungspolitik verantwortlich ist, die tausende Tote an den Außengrenzen einkalkuliert. Doch der öffentliche Druck ist – auch mit den Bildern aus Pagani! – in den letzten Monaten gewachsen, die Dublin-Abschiebungen nach Griechenland  einzustellen. Damit gerät dieser Baustein des EU-Migrationsregimes erstmals ins Wackeln. Schäuble kam in seinen letzten Tagen als Innenminister mit der griechischen Regierung in Streit, als er dieser vorwarf, Dublin II zu gefährden. Weitere Mittelmeerstaaten stellten sich auf die Seite Griechenlands und forderten eine Neugestaltung der europäischen Flüchtlingsaufnahme.

Another 5-Years Program of Death and Detention

Anfang Dezember werden die EU-Innenminister in Brüssel das nächste 5-Jahres-Programm für Inneres und Justiz verabschieden. Die weitere „Harmonisierung der Asyl- und Migrationspolitik“ soll festgeschrieben werden. Ein neues „5 years program of death and detention“, wie Kritiker in einem Aufruf zu Protestaktionen formulieren (4). Denn der Entwurf des sog. Stockholmer Programms (5) beinhaltet neben wenigen kosmetischen Reformen und einigem Blendwerk im Kern die knallharte Fortsetzung des Krieges gegen Flüchtlinge und MigrantInnen. Die massive Stärkung von Frontex, sowohl im Hinblick auf die Außengrenzen wie auch bezüglich koordinierter Charterabschiebungen, und die weitere Perfektionierung von Dublin II sind ausdrücklich hineinformuliert.

Protest und gute Nachrichten

Der geplante Protest Anfang Dezember gegen das Stockholmer Programm wird nicht über die symbolische Ebene hinauskommen, doch mit der geplanten Präsentation der „Voices of Pagani“ sowie einer Installation mit Schwimmwesten aus Lesbos soll die Brüsseler Bühne nicht allein den EU-Innenministern überlassen bleiben. Mitte November haben antirassistische Gruppen in Nürnberg und Berlin erste kleine Aktionen gegen die Dublin-II-Verantwortlichen gestartet. Anfang Dezember sollen diese im Rahmen der Proteste zur Innenministerkonferenz in Bremen fortgeführt werden. Beide Aktivitäten sind nicht zuletzt von der Dynamik des Nobordercamps inspiriert, das sich mit der Schließung von Pagani einen nachträglichen Erfolg mit auf die Fahnen schreiben kann. Eine Fortsetzung im nächsten Sommer wäre wünschenswert – und dranbleiben sicherlich sinnvoll!
Neben den mittlerweile vier Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes, Dublin-Rückschiebungen nach Griechenland auszusetzen, gab es im Oktober noch eine weitere positive Nachricht zu vermelden. Im Cap Anamur-Prozess im italienischen Agrigento wurden die Angeklagten freigesprochen. Aus all diesen Momenten soll hiermit keine Defensive des EU-Migrationsregimes herbeigeredet werden, das Sterben an den Außengrenzen geht täglich weiter (6). Aber vielleicht ist zur Zeit wieder mal deutlicher erkennbar, dass die Bewegungen und Kämpfe der Migration in einem umkämpften Feld stattfinden, in dem sich durchaus immer wieder punkten lässt.

Hagen Kopp, kein mensch ist illegal Hanau

(1) siehe Texte zum Nobordercamp in Griechenland in den letzten beiden Nummern des ak
 (2) siehe Interview mit „Milad“ vom Oktober 2009 in Athen, veröffentlicht auf der Webseite von transact: http://transact.noblogs.org/
(3) Detaillierte Berichte mit Fotos zu den Ereignissen dieser Tagen finden sich auf der aktuell gehaltenen Webseite des Nobordercamps: http://lesvos09.antira.info/
(4) Aufruf und Programm siehe unter www.noborder.org
(5) Die Verabschiedung fällt in die schwedische EU- Präsidentschaft, deshalb Stockholmer Programm. Weitere Infos finden sich unter http://stockholm.noblogs.org/
(6) In der Woche, in der Pagani endlich geschlossen wurde, ertranken 8 afghanische Frauen und Kinder vor Lesbos, als ihr Boot auf einen Felsen auflief.

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