»…im Ernstfall den Kalender wegwerfen!«


Die Krise als Treibhaus für soziale Kämpfe? - Ein Aperitif für weitere Debatten

Luciente und Riva sind Romanfiguren von Marge Piercy. Sie stritten bereits in der ersten Transact!-Zeitung zum Klima- und Antira-Doppelcamp im Sommer 2008 in Hamburg – damals unter dem Titel »Luxus für alle! In Zeiten des Klimawandels«.

Riva: Wenn das so weitergeht, wer weiß, ob wir uns die ganzen Camp- und Gipfelpläne für dieses Jahr nicht schenken können! Das System ist auf dem Weg in den Abgrund und wenn ich mir heute an der Bushaltestelle anhöre, was so über »den Kapitalismus« und generell über Politik gesprochen wird – das hätten wir uns doch vor ein paar Monaten nicht träumen lassen! Das geht richtig schnell ganz neuen Zeiten entgegen!

Luciente: Krisenproteste, Revolten, ich kann’s nicht mehr hören – das sind Luftschlösser, nicht mehr! Sicherlich, im Moment ist so etwas wie eine  Legitimationskrise zu spüren, aber doch nur im Promille-Bereich. Ja, ich weiß, die Leute schimpfen, dennoch führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass es kaum Selbstorganisierungsprozesse ›von unten‹ gibt. Nimm mal die Krisendemos am 28. März in Frankfurt und Berlin. Da waren bestenfalls 40.000 Menschen auf den Beinen. Das war ernüchternd – bei einem solchen Top-Thema und bei derart aufwändiger Mobilisierung im Vorfeld.

Riva: Sorry, das ist schlechter Maximalismus – das ist jetzt genauso irreführend wie der von dir gegeißelte Krisen-Optimismus. Du unterschätzt, inwieweit die Krise das Zeug zum Treibhaus hat.
Ich meine damit, inwieweit durch die Krise und das staatliche Krisenmanagement soziale Widersprüche ganz anders sichtbar und soziale Kämpfe wieder vorstellbar werden: In den Betrieben, bei den Arbeitsagenturen, gegen Privatisierungen, und insgesamt im Alltag. Wer glaubt denn  heute noch ernsthaft, dass nicht genug Geld da wäre? Soziale Prozesse beschleunigen sich enorm und werden mit ganz anderen Erwartungen aufgeladen. Und darin liegen unglaubliche Potentiale: die Krise könnte zum Katalysator werden, nicht nur für lokale Kämpfe, auch für ihre politische und organisatorische Vernetzung – so wie das am 28. März bereits punktuell angeklungen ist.

Luciente: Meinetwegen, das Bild vom »sozialen Treibhaus« ist nicht schlecht. Nur musst du dann auch gucken, wie es um die Pflänzchen bestellt ist. Das Dominante, was ich so mitbekomme, ist immer wieder Angst. Und die ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber, zumal sie schnell in Verzweiflung und Apathie umschlagen kann – wenn sie nicht gleich chauvinistischen Lösungen von rechts den Boden bereitet. Ich denke, es lohnt sich, an dieser Stelle einen kurzen Blick zurück zu werfen: Am 1. November 2003 standen in Berlin plötzlich 100.000 Menschen auf der Straße, noch nicht einmal die OrganisatorInnen der Großdemo gegen Sozialkahlschlag hatten mit derartigen Massen gerechnet. Die Leute waren zuversichtlich, sie hatten das Gefühl, die von Rot-Grün kurz vorher beschlossene Agenda 2010 noch kippen zu können. Doch am Ende half das alles nichts, selbst die Montagsdemos im Sommer 2004 konnten die Einführung von Hartz IV nicht mehr stoppen. Solche Erfahrungen haben die Menschen in den letzten Jahren zuhauf gemacht, sie sind mürbe geworden, das müssen wir in unseren Planungen berücksichtigen. 

Riva: Das mag ja alles sein, natürlich stehen die Einzelnen der Krise oder der ganzen Globalisierungsmaschine erst einmal hilflos gegenüber. Doch objektiv ist die Verhandlungsmacht der Beschäftigten weltweit gestiegen. Das Kapital ist mit der Vertiefung von Arbeitsteilung und immer komplexeren Just-in Time-Produktionsprozessen noch abhängiger geworden vom reibungslosen Funktionieren der Arbeitskräfte und der Transportketten. Und da macht dann der berühmte Schraubenschlüssel, den eine einzelne in die Maschine fallen lässt, gleich viel mehr aus. Die Frage ist lediglich, wann und wie diese – um mit Beverly Silver zu sprechen –  »Forces of Labour« als kollektive Kraft erfahrbar werden können.

Luciente: Richtig, genau darum geht es: Objektiv könnten bereits 20 StellwerkerInnen am Frankfurter Hauptbahnhof den Fernverkehr im halben Bundesgebiet lahmlegen. So etwas passiert aber kaum noch. Das hat mit vielerlei zu tun, nicht zuletzt damit, dass durch die systematische Prekarisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche der Organisierungsgrad der Leute extrem abgenommen hat. Viele sind vereinzelt, erst in jüngerer Zeit haben die Gewerkschaften vorsichtig begonnen, einen halbwegs gescheiten Umgang mit dieser Situation zu finden – etwa durch gezielte Organizing-Prozesse im Einzelhandel. Ich möchte es mal zuspitzen: Spätestens seit Ende der 1970er Jahre haben die Menschen in ihren Streiks und Kämpfen nahezu permanent Niederlagen kassiert. Eine nachholende Entwicklung von Kampf- und Organisierungserfahrungen ist also bitter nötig! Ansonsten kannst du es vergessen, dass die Menschen ein Gefühl für ihre wirkliche Macht entwickeln.

Riva: Das hört sich bei dir nur noch zäh und beschwerlich an, ganz nach dem linken Motto: »Hier muss erstmal 10 Jahre pädagogische Aufklärungsarbeit erfolgen, bis neue Kämpfe zu erwarten sind!« Und dabei vergisst du, dass sich in den konkreten Kämpfen oft ungeahnte soziale Dynamiken auftun. Wenn du zum Beispiel an den Gate Gourmet-Streik am Düsseldorfer Flughafen zurückdenkst, da haben sich in wenigen Streik-Monaten unglaubliche Entwicklungen bei den Beteiligten ergeben. In dieser Dynamik kann es dann auf einmal riesige Sprünge geben. Die Leute fangen plötzlich an, alles mögliche grundlegend in Frage zu stellen, sie werden aktiv, nicht nur durch neue Kontakte, sondern auch durch die Solidarität, die sie erfahren. Insofern finde ich den Untertitel des Buches zum Gate Gourmet-Streik extrem gelungen, er lautet: »… auf den Geschmack gekommen«.

Luciente: In einzelnen Fällen ist das sicherlich zutreffend. Aber gerade das Gate Gourmet-Beispiel hat in meinen Augen auch gezeigt, dass es mit diesen »Sprüngen«, wie du es nennst, ganz schnell wieder vorbei sein kann. Wo sind denn diese Leute heute? Jede Wette: wenn du dich jetzt dort ans Band begibst, ist doch von der Streikstimmung vor dem Werkstor nicht mehr viel übrig! Zum einen ist mindestens die Hälfte der Belegschaft längst durch andere ersetzt – und die restlichen haben die Erfahrungen irgendwo vergraben, manche sind gar apathischer als vorher, weil sich nichts Kontinuierliches entwickelt hat.

Riva: Du siehst das zu statisch: Kämpfe verlaufen doch immer in Wellen. An einer Stelle flackert etwas auf, lässt kurz erahnen, was sich alles entfalten könnte, und irgendwann geht es an einem anderen Ort weiter. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob es unter Krisen-Bedingungen zu einer neuen Dichte und Heftigkeit der Kämpfe kommen wird, ob die Intervalle kürzer werden und sich daraus ungleich größere Kampf-Zyklen entwickeln können. Wir sollten an solche Fragen historischer drangehen. Denk doch nur an den Kollaps der DDR. Noch 2 Monate vor dem Mauerfall hätte das niemand für möglich gehalten.

Luciente: Nun, wir können ja gucken, ich hätte natürlich nichts dagegen, wenn du Recht behalten würdest. Ich würde aber gerne noch etwas anderes wissen: Wenn du so intensiv auf Kämpfe setzt, würde mich schon interessieren, wie du deine eigene Rolle darin beschreibst. Mal kurz vorbeischauen und Öl ins Feuer gießen? Oder wie?

Riva: Meine Rolle ist in aller Regel die einer Botschafterin oder Dolmetscherin, welche in den jeweiligen Kämpfen von den Erfahrungen anderer Kämpfe berichtet und versucht, Brücken zu bauen, auf denen verschiedene soziale Realitäten aufeinander treffen bzw. zusammenwirken können. Und manchmal ist es auch der Versuch, Kämpfe überhaupt erst sichtbar und stark zu machen, und zwar dadurch, dass sie als solche benannt werden, ganz egal, wie unscheinbar sie sein mögen. Genausowenig sollte aus dem Blick geraten, dass Kämpfe um so wirkmächtiger sind, je stärker sie als lebendige Erfahrung verfügbar bleiben. Praktisch heißt das – und auch darin sehe ich eine Aufgabe von mir, dass Kämpfe in Worten, Bildern oder auf andere Weise quasi chronistisch festgehalten werden sollten. Denn nur so produzieren Bewegungen jenes so wichtige Wissen um ihre eigene Geschichte.

Luciente: Mhm, das klingt ja ziemlich pathetisch, fast schon edelmütig. Ich frage mich allerdings, wo du selbst vorkommst? Du scheinst dich überhaupt nicht mit deinen eigenen Interessen in diese Prozesse einzubringen. Ich sehe dich nur beobachtend und beschreibend am Rand – so als ob du dich nicht um deine materielle Reproduktion kümmern müsstest! Dem würde ich entgegenhalten, dass wir als linke AktivistInnen nicht davor zurückschrecken dürfen, auch unsere eigene soziale Situation zu thematisieren. Wir brauchen außerdem Zentren und Orte der Kommunikation, also Strukturen, die es überhaupt erst ermöglichen, eine kontinuierliche Widerstandspraxis zu entwickeln.

Riva: Ich finde, du sprichst zwei völlig verschiedene Dinge an: Zum einen, ob bzw. wie wir unsere eigene Situation zum Politikum machen. Hier denke ich, dass beides zutrifft: Unter den Prekarisierten gibt es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen. So wäre es zum Beispiel zynisch, Jung-AkademikerInnen in der Praktikumsphase mit papierlosen Hausarbeiterinnen in einen Topf zu werfen. In diesem Sinne scheint es mir mehr als angebracht, nicht nur um die eigene Betroffenheit zu kreisen, sondern auch offensiv für die Interessen all jener einzustehen, deren Situation ungleich prekärer bzw. bedrohlicher ist. Zum anderen zielst du auf die Organisierungsfrage. Diesbezüglich bin ich skeptischer: Denn fehlende Organisierung ist in meinen Augen keineswegs das Hauptproblem. Das Problem ist vielmehr, dass viele Linke ihr Leben so eingerichtet haben, dass es ihnen kaum möglich ist, im Ernstfall den eigenen Kalender wegzuwerfen und sich direkt ins Kampfgetümmel zu stürzen. Wo das jedoch passiert und reale Auseinandersetzungen tatsächlich in Gang kommen, ergeben sich die Strukturen in aller Regel von selbst, einfach deshalb, weil es ohne sie gar nicht ginge.

Luciente: Ok, im Grundsatz kann ich dir zustimmen, auch wenn ich finde, dass deine Formulierungen ganz schön überspitzt daherkommen. Denn natürlich ist der Existenzdruck heute ungleich höher als noch vor 20 Jahren, außerdem sollten wir uns davor hüten, falsche Gegensätze zwischen Spontaneität und Organisierung aufzumachen. Aber wichtiger erscheint mir etwas anderes: Die Bereitschaft, sich mit Lust und Leidenschaft in konkrete Kämpfe reinzuwerfen, ist noch lange kein Garant dafür, dass mensch so ohne weiteres handelseinig würde, etwa mit ArbeiterInnen aus der Automobilindustrie.

Riva: Klar, hier dürfen wir uns nichts vormachen. Aus klimapolitischen Erwägungen ist – um nur ein Beispiel zu nennen – jeder Stillstand am Autofließband zu begrüßen. Dennoch sollten die berechtigten Interessen der Autoarbeiter-Innen nach gesicherten Arbeitsplätzen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Vielmehr gilt es, in derart widersprüchlichen Konstellationen offen und neugierig in alle Richtungen zu sein, ohne die eigenen Perspektiven aus den Augen zu verlieren. Konkret hieße das, Irrläufern wie Abwrackprämie oder Standortwettbewerb eine klare Absage zu erteilen, gleichzeitig aber zukunftsträchtige Forderungen wie Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich stark zu machen.

// Krise & soziale Kämpfe: Fragen, Debatten, Strategien
zur aktuellen Situation // Hrsg. von Transact! // Frühjahr 2009 // Nr.2
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